Frauenappell: Giftgasvorwürfe untersuchen, Türkei zur Rechenschaft ziehen

In einem offenen Brief an OPCW-Direktor Fernando Arias fordern international bekannte Frauen aus Politik, Medien und Literatur eine sofortige Untersuchung der Chemiewaffenangriffe in Südkurdistan und Konsequenzen für die Türkei.

In einem offenen Brief an den Generaldirektor der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), Fernando Arias, fordern Frauenorganisationen und international bekannte Frauen aus Politik, Medien und Literatur ein entschlossenes Handeln gegen die Türkei, der in Südkurdistan der Einsatz von chemischen Kampfstoffen vorgeworfen wird. Der Appell wurde auf Initiative des in Silêmanî ansässigen Frauenbüros REPAK (Navenda Pêwendiyan a Jinên Kurd) verfasst. Nachfolgend dokumentieren wir den Brief in deutscher Übersetzung:

„Wir wenden uns heute an Sie als Frauen aus verschiedenen Ländern in einer Angelegenheit, die uns große Sorgen bereitet. Erneut sieht sich die türkische Armee mit Vorwürfen konfrontiert, international verbotene Waffen eingesetzt zu haben.

Seit dem 23. April 2021 führt der türkische Staat im Nordirak eine Militäroffensive gegen die kurdische Guerilla und die Zivilbevölkerung durch. Davon abgesehen, dass diese Militäroperation in einem Nachbarland völkerrechtswidrig ist, begeht die Türkei durch den Einsatz international geächteter Waffen auch Kriegsverbrechen. 

Nach Angaben der Pressestelle der Volksverteidigungskräfte (HPG) hat die türkische Armee in den letzten fünf Monaten insgesamt 138 Angriffe mit chemischen Waffen durchgeführt, bei denen mehrere Kämpferinnen und Kämpfer ihr Leben verloren. Allein am 3. September wurden drei Kämpfer:innen in Girê Sor in der Region Avaşîn getötet. Nicht nur die Guerilla ist das Ziel dieser Gräueltaten. Am 4. September wurde das Dorf Hiror mit chemischen Waffen angegriffen, wobei Mitglieder einer örtlichen Familie verletzt wurden. Die NGO ‚Christian Peacemaker Teams – Iraqi Kurdistan‘ bestätigte, dass die Verletzungen der Familienmitglieder durch chemische Waffen verursacht wurden.

Dies ist nicht das erste Mal: Bereits 2010, 2013 und insbesondere bei Bombardements in der nordsyrischen Stadt Serêkaniyê (arabisch: Ras al-Ain) im Oktober 2019 wurde die Türkei des Einsatzes von Chemiewaffen gegen Zivilpersonen beschuldigt. Belastendes Filmmaterial und Einschätzungen von Fachleuten in den internationalen Medien unterstützten damals diesen Vorwurf. Am 17. Oktober 2019 setzte die Türkei bei ihren Luftangriffen auf Serêkaniyê weißen Phosphor ein, wobei Dutzende von Menschen, darunter auch Kinder und Frauen, schwer verletzt wurden. Auch damals schwiegen internationale Organisationen und die Staatengemeinschaft zu diesen Verbrechen der Türkei.

Die Geschichte ist voll von staatlichen Gräueltaten gegen Einzelpersonen oder ethnische Gruppen, weil sie Staaten schutzlos ausgeliefert sind. Um dies zu verhindern, wurden internationale Gesetze und Mechanismen wie Ihre Organisation als eine Errungenschaft der Menschheit geschaffen. Aber wir sehen, dass der Zustand der Schutzlosigkeit anhält, weil eben Gesetze nicht angewandt und Mechanismen ihren Verpflichtungen nicht konsequent nachkommen.

Wir stellen mit Bedauern fest, dass weder nationales noch internationales Recht Anwendung findet, wenn es um Kurdinnen und Kurden geht. Die Türkei, die die Chemiewaffenkonvention ratifiziert hat, verübt seit Jahren vor den Augen der internationalen Öffentlichkeit und Ihrer Organisation Gräueltaten, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Der Giftgasangriff von Saddam Hussein auf die kurdische Bevölkerung im Nordirak 1988 hätte verhindert werden können, wenn seine Aktivitäten vorher gestoppt worden wären. Für die mehr als 5.000 Opfer des Giftgasangriffs in der Stadt Halabja und ihre Angehörigen war es ein Hohn, dass sie 15 Jahre später als Vorwand für einen Angriff auf den Irak benutzt wurden, um noch mehr Leid zu verursachen.  

Wir wollen diesem Verbrechen nicht durch Untätigkeit Vorschub leisten. Wir erwarten von Ihnen als Generaldirektor der internationalen Organisation für das Verbot chemischer Waffen, dass Sie Ihrer Verantwortung gerecht werden, diesen schwerwiegenden Vorwürfen nachgehen, aufklärende Maßnahmen ergreifen und die Türkei für ihre Verbrechen zur Rechenschaft ziehen.“

Die Erstunterzeichnenden sind:

Silvia Federici, Philosophin – USA
Nancy Fraser, Philosophin, Professorin für Politikwissenschaften – USA
Gloria Steinem, Feministin, Journalistin und Frauenrechtlerin – USA
Debra Winger, Schauspielerin – USA
Charlotte Bunch, Professorin und Gründerin des Center for Women's Global Leadership – USA
Marina Sitrin, Soziologin, Autorin und Herausgeberin zahlreicher Bücher – USA
Joy James, Philosophin – USA
Joya Misra, Professorin für Soziologie, Direktorin des Institute for Social Science Research (ISSR) – USA
Debbie Bookchin, Buchautorin und Journalistin – USA
Meredith Tax, Schriftstellerin und politische Aktivistin – USA
Miriam Miranda, OFRANEH-Koordinatorin –  Honduras
Claudia Korol, Feministinnen aus ABYA YALA  –  Argentinien
Margara Millan, Akademikerin –  Mexiko
Sylvia Marcos, Schriftstellerin –  Mexiko
Cheryl Hayles, Präsidentin International Alliance of Women (IAW) –  Kanada  
REPAK – Südkurdistan
Multinational Democratic Women's Platform – Iran
Bese Şamari, Vorstandsmitglied Plattform demokratisches Iran - Iran
Demokratische Frauenfront – Pakistan
Revolutionäre Vereinigung der Frauen Afghanistans (RAWA) – Afghanistan
Selay Ghaffar, Sprecherin der Solidaritätspartei Afghanistan (Hambastagi) – Afghanistan
Belqis Roshan, Abgeordnete – Afghanistan
Gita Sahgal, Autorin und Regisseurin, Gründerin von Southall Black Sisters und Women Against Fundamentalism – Indien
Helda Khasmy, Vorsitzende Frauenorganisation SERUNI – Indonesien
Maat for Peace, Development and Human Rights – Ägypten
Dr. Angela Al-Maamari, Zentrum für strategische Studien zur Unterstützung von Frauen und Kindern – Jemen  
Fathia Hezem, Verein Demokratische Frauen Tunesiens – Tunesien
Bushra Al-Tai, Center for Studies and Human Development – Irak
Şirin Kerim Murad, Frauenkomitee Demokratische Volksfront – Irak
Dr. Maha Al-Sakban, Akademikerin – Irak
Insaf Abdullah, Frauenrechtsaktivistin – Sudan  
Dr. Heba Haddadini, Feministin, Aktivistin – Jordanien 
Kanir Abdullah Hama Aziz, Autorin – Südkurdistan
Remziye Muhammed, Sprecherin Kongreya Star – Rojava  
Rima Barakat, Ko-Vorsitzende Gerechtigkeitsrat – Rojava  
Eman Fetaih, Friedensforum syrischer Frauen im Libanon – Libanon
Dr. Sophie Zaza, Vorsitzende Verein Gesundheit und Schutz – Libanon
Mona Yaya, Sahrawi: Gemeinschaft der Menschenrechtsverteidiger – Westsahara
Rahila Gupta, Southall Black Sisters, Journalistin – Großbritannien
Weltfrauenmarsch baskische Koordination – Baskenland
Jule Goikoetxea Mentxaka, Universität Bilbao – Baskenland
Oihana Etxebarrieta, Abgeordnete EH Bildu – Baskenland 
Eider Azkunaga Hernández, Gewerkschaft Euskal Sindikatua  – Baskenland
Women Defend Rojava Madrid – Spanien
Rojava Azadi Madrid – Spanien
Komünler Vakfı (Fundación de los Comunes) – Spanien
Ann-Margarethe Liv, Gründerin Solidaritet med Kurdistan – Schweden
Lorena Delgado Waras, Abgeordnete – Schweden
Amineh Kakabaveh, Abgeordnete – Schweden
Parvin Ardalan, Autorin, Journalistin, Frauenrechtaktivistin – Schweden
Seher Aydar, Abgeordnete – Norwegen
Sofie Marhaug, Abgeordnete – Norwegen
Hege Bae Nyholt, Abgeordnete – Norwegen
Anina Jendreyko, Künstlerin – Schweiz
Maja Hess, Ärztin – Schweiz
Mitra Darvishian, Autorin und frauenrechtsaktivistin – Deutschland
Women Defend Rojava – Deutschland
Cansu Özdemir, Abgeordnete – Deutschland
Şeyda Kurt, Journalistin und Autorin – Deutschland
Elif Küçük, Künstlerin – Deutschland
Antonella Valenti, Professorin Universität Kalabrien – Italien
Italian Coordination in Support of Afghan Women (CISDA) – Italien
Dr. Palmira Tavolaro, Akademikerin – Italien
Donata Chirico, Dozentin Universität Kalabrien – Italien
Maria Laura Corradi, Soziologin und Genderforscherin – Italien