Die deutsche Bundesregierung weiß aus den Medien, dass die Türkei verbotene Chemiewaffen in Kurdistan einsetzt. Eigene Erkenntnisse will sie jedoch nicht haben und als konkrete Konsequenz aus dem eklatanten Bruch des Völkerrechts und der Chemiewaffenkonvention sieht sie es für ausreichend, in den regelmäßigen Gesprächen mit Vertretern der türkischen Regierung „Respekt für Souveränität, Zurückhaltung, Achtung des humanitären Völkerrechts sowie die Wahrung nationaler Sicherheitsinteressen auf politischem Wege“ anzumahnen.
Das geht aus den Antworten von Staatssekretär Miguel Berger im Auswärtigen Amt auf Anfragen der Linksfraktion im Bundestag hervor. Die Abgeordnete Gökay Akbulut hat vergangene Woche nach den Erkenntnissen der Bundesregierung über den Einsatz von chemischen Waffen bei der Operation der türkischen Armee gegen die PKK in Südkurdistan gefragt und wollte wissen, welche Konsequenzen daraus gezogen werden. Außerdem stellte sie die berechtigte Frage, wo diese Waffen herkommen: Hat die Türkei im Ausland eingekauft oder produziert sie selbst chemische Kampfstoffe?
In der am Mittwoch erfolgten Antwort heißt es: „Der Bundesregierung liegen keine über Medienberichte hinausgehenden eigenen Erkenntnisse über einen Einsatz chemischer Kampfstoffe durch die türkischen Sicherheitskräfte vor. Die Türkei ist wie die Bundesrepublik Deutschland Vertragsstaat des am 29.04.1997 in Kraft getretenen Abkommens über das Verbot Chemischer Waffen (CWÜ). Bei ihrem Beitritt zum Chemiewaffenabkommen hat die Türkei keine Bestände chemischer Waffen deklariert. Um die Einhaltung des Abkommens zu gewährleisten, wurde die Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OVCW) geschaffen. Die Türkei unterliegt als Vertragsstaat den Überwachungsmechanismen dieser Organisation.“
Deutsches Standardprogramm: Die Türkei wird ermahnt
Auch Ulla Jelpke, die nach 28 Jahren als Abgeordnete aus dem Bundestag ausgeschieden ist und die Verbrechen des türkischen Staates in Kurdistan in dieser Zeit unermüdlich immer wieder in parlamentarischen Initiativen eingebracht hat, widmete eine ihrer letzten Fragen an die Bundesregierung diesem Thema und wollte vor allem wissen, inwieweit die deutsche Regierung sich für eine Aufklärung der Vorwürfe des möglichen Einsatzes von durch das Chemiewaffenabkommen geächteten Chemiewaffen durch einen NATO-Partner einsetzt. Die Antwort aus dem Auswärtigen Amt ist dieselbe wie bei der Frage von Gökay Akbulut: Für die Bundesregierung gehört es zum Standardprogramm, die Türkei immer mal wieder zu ermahnen, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten.
Guerilla fordert internationale Untersuchung
Unterdessen fordern kurdische Organisationen, den Chemiewaffeneinsatz vor Ort zu untersuchen. Der Oberkommandierende des zentralen Hauptquartiers der Volksverteidigungskräfte (HPG), Murat Karayılan, wirft dem Westen vor, im Kampf gegen den Einsatz von Chemiewaffen zweierlei Maß anzuwenden. Die unter anderem von den HPG vorgebrachten Beweise belegten eindeutig, dass der türkische Staat in Südkurdistan hinter Chemiewaffeneinsätzen gegen die Guerilla steckt. Dennoch blieb eine politische Antwort bisher aus. Das Thema würde trotz zahlreichen Appellen, Aufrufen und Anträgen, die sich hauptsächlich an die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) richteten, ignoriert, es bestehe offenbar keinerlei Interesse, den Fakten nachzugehen.
Die Leichen von sechs Kämpferinnen und Kämpfern, die Anfang September durch Giftgas getötet wurden, befinden sich immer noch in einem Tunnel am Girê Sor an der türkisch-irakischen Staatsgrenze. Karayılan fordert internationale Organisationen zur Untersuchung auf. Zugang zu den Orten, wo Chemiewaffen eingesetzt worden sind, gibt es über die Türkei sowie über Gebiete in Südkurdistan, die von der Guerilla oder der kurdischen Regionalregierung kontrolliert werden.