Geht es nach der Oberstaatsanwaltschaft Ankara, gehört Feleknas Uca zu jenen Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP), die möglichst lange hinter türkischen Gittern verschwinden sollen. Gleich drei Anträge zur Aufhebung der Immunität mit dem Ziel der Strafverfolgung der in Celle geborenen ezidischen Abgeordneten aus dem Wahlkreis Êlih (tr. Batman) legte die Behörde in dieser Woche dem Präsidium der türkischen Nationalversammlung vor. Sie alle stehen im Zusammenhang mit angeblichen Gesetzesverstößen und gehen auf Beschwerden aus dem Präsidialbüro zurück. Die Gesamtzahl der bisherigen Fezleke (staatsanwaltliche Ermittlungsberichte) gegen Uca bewegt sich im oberen zweistelligen Bereich.
Die Gründe der Staatsanwaltschaft, durch den Immunitätsentzug den Weg zur Strafverfolgung freizumachen, sind an Absurdität kaum zu überbieten. So geht es in einem der letzten Anträge um den Vorwurf der „Volksverhetzung“, der sich darauf gründe, dass Uca sich gegenüber Medien kritisch zu völkerrechtswidrigen Angriffen der türkischen Armee auf das ezidische Hauptsiedlungsgebiet Şengal im Nordwesten des Iraks und gegen die Autonomiegebiete von Nord- und Ostsyrien äußerte. Den Vorwurf der „Propaganda für eine terroristische Organisation“ – gemeint ist offenbar die PKK – sieht die Behörde in einer Rede Ucas bei einer Aktion anlässlich des Frauenkampftags am 8. März 2021 bestätigt.
Zudem wird der 46-jährigen Uca auch noch ein Verstoß gegen das türkische Versammlungsgesetz vorgeworfen, weil sie sich im November 2018 an einer Demonstration in Solidarität mit Leyla Güven beteiligte. Güven war damals im Knast in den unbefristeten Hungerstreik getreten, um gegen die Isolationshaft von Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali zu protestieren. Mit der Aktion hatte die ehemalige Abgeordnete eine ganze Hungerstreikbewegung initiiert, an der sich am Ende mehr als 7.000 Gefangene beteiligt hatten. Seit Ende 2020 ist Güven wieder in Haft. Zu mehr als zwei Jahrzehnten Freiheitsstrafe wurde sie wegen angeblicher PKK-Mitgliedschaft verurteilt. Das Gericht warf ihr unter anderem „matriarchales Gedankengut“ vor.
Die Aufhebung der Immunität mit dem Ziel der anschließenden Inhaftierung von oppositionellen Abgeordneten stellt ein vom türkischen Staat in den letzten Jahren inflationär benutztes Mittel zur Ausschaltung jeglichem politischen Dissens dar. Fast im Wochentakt werden entsprechende Ermittlungsberichte von der Oberstaatsanwaltschaft Ankara beim Parlament eingereicht.
EGMR: Immunitätsentzug bedeutet Unterdrückung von Pluralismus
Ende November lagen mehr als 2.000 Fezleke zur Entscheidung in der türkischen Nationalversammlung. Über 1.500 betreffen Abgeordnete der HDP und ihrer Schwesterpartei DBP. Einige Politikerinnen und Politiker der HDP-Fraktion werden in verschiedenen Berichten sogar beschuldigt, Mitglied einer „bewaffneten und terroristischen“ Organisation zu sein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Hinblick auf bereits erfolgte Fälle von Immunitätsentzug von HDP-Abgeordneten bereits in mehreren Urteilen entschieden, dass dieses Vorgehen des türkischen Staates den konkreten Zweck hatte, Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken.