In diesem aufschlussreichen Interview begegnen sich die junge kurdische Aktivistin Berivan und Ayten Kaplan, Sprecherin der Kurdischen Frauenbewegung in Europa (TJK-E). Im Dialog beleuchten sie die zentrale Rolle der kurdischen Frauenbewegung in der Gesellschaft und deren unermüdlichen Einsatz für Gleichberechtigung, Frieden und Demokratie. Ein besonderer Fokus liegt auf dem kurdischen Neujahrsfest Newroz, das nicht nur den Beginn eines neuen Jahres symbolisiert, sondern auch als Zeichen des Widerstands und der Hoffnung für Freiheit und soziale Gerechtigkeit gilt. Ayten Kaplan teilt ihre Perspektiven zu den Herausforderungen und Chancen, die sich für kurdische Frauen in Europa und im Nahen Osten ergeben, und betont die Bedeutung von Bildung, kulturellem Erbe und sozialer Teilhabe. Das von Civaka Azad (Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.) veröffentlichte Gespräch bietet nicht nur einen tiefen Einblick in die Anliegen der kurdischen Frauenbewegung, sondern auch in die Vision einer gerechteren und demokratischeren Gesellschaft, in der Frauen eine Schlüsselrolle spielen.
Berivan: Lass uns doch mit der Präsentation von TJK-E anfangen.
AK: Die Kurdische Frauenbewegung in Europa (TJK-E) wurde 2014 gegründet, um kurdische Frauenorganisationen in Europa zu vernetzen und ihre Arbeit sichtbarer zu machen. Ziel ist es, Frauen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu stärken und ihre Organisierung zu unterstützen – sei es durch Bildung, soziale Arbeit oder Kulturprojekte. Es geht darum, Frauen eine Plattform zu geben, ihre Anliegen in der Öffentlichkeit zu vertreten und sich international zu vernetzen.
Wie wurde der Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft und die Botschaft für die Frauen am 8. März aufgenommen? Welche Perspektiven ergeben sich für die kurdische Frauenbewegung?
Abdullah Öcalans Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft basiert auf seinem Paradigma, das die Perspektive der kurdischen Freiheitsbewegung darstellt. Seit Jahren setzen wir uns für eine gesellschaftliche Neuordnung ein, in der ethnische und religiöse Vielfalt als Bereicherung verstanden wird. Rojava ist ein Beispiel für ein funktionierendes basisdemokratisches Modell. Dabei geht es nicht nur um Kurd:innen, sondern auch um andere ethnische Gruppen und Interessierte, die das alternative Gesellschaftssystem unterstützen wollen. Für uns ist es wichtig, ethnische oder religiöse Unterschiede nicht als Fremdheit oder Ausgrenzung zu sehen, sondern als Chance, voneinander zu lernen und sich durch unterschiedliche Kulturen und Hintergründe gegenseitig zu stärken. Frauen spielen dabei eine entscheidende Rolle. Über Jahrhunderte wurden sie systematisch aus gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen verdrängt. Gerade im Nahen Osten war dieser Ausschluss aufgrund patriarchaler Strukturen und religiöser Normen besonders ausgeprägt. Frauen wurden nicht als eigenständige Individuen anerkannt, die denken, analysieren und die Gesellschaft aktiv mitgestalten können. Ihr Kampf um Gleichberechtigung ist daher nicht nur ein Kampf gegen patriarchale Unterdrückung, sondern auch gegen ein System, das sie jahrhundertelang unsichtbar gemacht hat. Der Einsatz für Frauenrechte ist daher untrennbar mit dem Kampf für eine gerechte Gesellschaft verbunden.
Welche Rolle spielen Frauen in der kommenden Zeit für Frieden und eine demokratische Gesellschaft und inwiefern spielen Frauen eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft?
Frauen sind die treibende Kraft für gesellschaftliche Veränderungen. Sie bewahren das kulturelle Erbe, erziehen kommende Generationen und tragen entscheidend zum sozialen Gefüge bei. Ein Beispiel dafür ist, dass kurdische Frauen trotz jahrhundertelanger Unterdrückung ihre Sprache und Kultur in den eigenen vier Wänden weitergegeben haben. Ihre Erziehung und Wissensvermittlung ist ein wesentlicher Bestandteil des sozialen Zusammenhalts. Indem sie ihre Kinder erziehen und ihr Wissen weitergeben, tragen sie entscheidend zur gesellschaftlichen Transformation bei. Ein weiterer Aspekt, wie Frauen zum Frieden beitragen: Sie erleben Krieg unmittelbar - als Betroffene von Gewalt und Vertreibung. Deshalb haben sie ein besonderes Interesse am Frieden. Die Versöhnung zwischen Müttern, die ihre Kinder im Krieg verloren haben, ob Kurden oder Türken, zeigt, dass Frauen Brücken bauen können, wo Männer oft nur in Kategorien von Sieg und Niederlage denken. Wenn zwei Mütter, die eine von einem türkischen Soldaten, die andere von einer Guerillakämpferin, ihren Schmerz teilen, entsteht eine tiefere Versöhnung, als es politische Erklärungen allein vermögen.
Das diesjährige Newroz-Fest steht unter dem Motto "Newroz für die Freiheit". Was bedeutet das?
Newroz ist für uns nicht nur ein Neujahrsfest, sondern auch ein Symbol des Widerstands. Es erinnert an den Kampf gegen Unterdrückung und den Einsatz für Freiheit und Demokratie. Frauen spielen dabei eine besondere Rolle, denn sie sind die Trägerinnen des gesellschaftlichen Wandels. Das diesjährige Newroz steht im Zeichen der Verantwortung, die wir als Frauen unter anderem für die Demokratisierung des Nahen Ostens tragen. Dabei erinnern wir uns auch an Mazlum Doğan, dessen Widerstand und Selbstaufopferung 1982 im Gefängnis von Diyarbakır zum Symbol des kurdischen Freiheitskampfes wurde. Seine Tat inspirierte viele, darunter zahlreiche Frauen, die eine führende Rolle im Kampf für Gerechtigkeit übernahmen und sogar ihr Leben dafür gaben. Newroz steht somit nicht nur für einen Neuanfang, sondern auch für den unerschütterlichen Willen, gegen Unterdrückung zu kämpfen und eine gerechtere Gesellschaft aufzubauen. Gleichzeitig soll es den Beginn einer neuen Phase der Demokratisierung markieren, in der Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit im Mittelpunkt stehen. Ein zentraler Schritt in diesem Prozess ist die Freilassung von Abdullah Öcalan, dessen Ideen einer demokratischen, ökologischen und geschlechtergerechten Gesellschaft nach wie vor eine neue Perspektive für den Kampf um Frieden und Gerechtigkeit darstellen.
Welche Rolle spielen kurdische Frauen bei Newroz und wie tragen sie dazu bei, das kulturelle Erbe und die Traditionen rund um Newroz zu bewahren?
Frauen haben über Jahrhunderte hinweg Traditionen bewahrt und weitergegeben, auch unter schwierigsten Bedingungen. Sie haben aber nicht nur Kultur bewahrt, sondern auch aktiv Widerstand geleistet. Die Selbstopferungen der Frauen während Newroz in den 90er Jahren waren ein starkes Zeichen gegen die Unterdrückung. Ihr Vermächtnis verpflichtet uns, den Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit fortzusetzen.
Was sind eure spezifischen Botschaften und Forderungen? Welche Rolle kann dabei die kurdische Diaspora spielen?
Die kapitalistische Moderne befindet sich in einer tiefen Krise. Soziale Ungleichheit, Flucht und Ausgrenzung sind direkte Folgen eines Systems, das den Profit über den Menschen stellt. Eine Alternative ist die demokratische Selbstverwaltung, wie sie in Rojava praktiziert wird. Doch wenn Staaten keine Lösungen für soziale, kulturelle oder politische Probleme bieten und stattdessen auf Repression setzen, führt das unweigerlich zu Widerstand. In vielen Teilen der Welt gewinnen faschistische Organisationen an Einfluss, weil sie das Unbehagen der Menschen aufgreifen, während die etablierten Systeme keine wirklichen Alternativen bieten. Hass, Ausgrenzung und Diskriminierung werden zur Alltagssprache, weil sich die Menschen nicht mehr sicher fühlen. Dies zeigt, dass es den Staaten nicht gelungen ist, die Gesellschaft in die politischen Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Entscheidungen werden von einer kleinen Elite getroffen, während Millionen von Menschen kein Mitspracherecht haben - weder in Friedens- noch in Kriegszeiten. Diese Entmündigung führt zu Frustration und Auflehnung. Die kurdische Diaspora kann eine Schlüsselrolle spielen, indem sie sich organisiert, politische Forderungen stellt und echte demokratische Partizipation einfordert. Nur durch gemeinsames Handeln kann langfristig etwas verändert werden. Ein Beispiel dafür ist Rojava. Dort hat sich in den letzten 13 Jahren eine föderale Struktur entwickelt, die die Partizipation aller ethnischen und religiösen Minderheiten ermöglicht. Zum ersten Mal im Nahen Osten wurde hier ein Demokratisierungsmodell als Alternative zur kapitalistischen Moderne geschaffen - ein System, das dem Paradigma der kurdischen Freiheitsbewegung entspricht und eine Lebensform bietet, in der die Menschen selbstbestimmt entscheiden, wie sie leben wollen.
Möchtest du zum Schluss noch etwas sagen?
Frauen sind die Stütze jeder Gesellschaft. Wenn wir eine gerechtere Welt wollen, müssen wir unsere Rolle erkennen und aktiv werden. Es geht nicht nur um unsere eigene Freiheit, sondern auch um das Erbe, das wir den kommenden Generationen hinterlassen. Eine Gesellschaft, in der Mensch und Natur im Einklang leben, ist möglich - wenn wir sie gemeinsam gestalten.
Vielen Dank für deine Zeit und deine wertvollen Einblicke.
Foto: Ayten Kaplan im Januar 2021 bei einer Protestveranstaltung vor dem französischen Konsulat in Düsseldorf anlässlich des Todestages der vom türkischen Geheimdienst MIT ermordeten kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez © ANF
Hinweis: In Deutschland wird das traditionelle Newroz am 29. März 2025 im Rebstockpark in Frankfurt am Main gefeiert, Beginn ist um 11:00 Uhr. Es werden Kurd:innen aus ganz Europa erwartet.