Der Waffenstillstand vom 1. September 1998

Im fünften Teil der Serie „Kurzgeschichte der Revolution Kurdistans“ geht es um die Hintergründe des von Abdullah Öcalan ausgerufenen einseitigen Waffenstillstand der PKK vom 1. September 1998 und die folgenden Entwicklungen.

Abdullah Öcalan hat Ende August 1998 die Forderung des türkischen Generalstabs aufgegriffen und einen ab dem 1. September geltenden Waffenstillstand ausgerufen. Ihm sollte schnell klar werden, dass dieser Waffenstillstand eine Finte war, denn der Startknopf für das internationale Komplott war bereits gedrückt.

In der Türkei war am 30. Juni 1998 eine neue Regierungskoalition unter Ministerpräsident Mesut Yilmaz (ANAP) an die Macht gekommen. Die erste Handlung der neuen Regierung bestand darin, mit dem kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan in einen Dialog zu treten. Vermittler begannen sofort mit der Arbeit. Zwischen Ankara, Brüssel und Abdullah Öcalan, der sich zu dieser Zeit in Damaskus aufhielt, wurden Botschaften ausgetauscht. In der ersten Juliwoche wurde eine Sendung auf MED TV ausgestrahlt, an der Vertreter beider Seiten telefonisch teilnehmen sollten. Von türkischer Seite kam jedoch kein Anruf, stattdessen kam ein Fax einer Scheinagentur im Live-Übertragungsstudio von MED TV an. In dem Fax stand: „Für eine Lösung des Problems hätte Öcalan seinen Aufenthaltsort verlassen müssen.“

Abdullah Öcalan antwortete auf das im Fernsehen verlesene Fax, dass Syrien kein Problem sei, wenn Ankara einen ausreichenden Willen für eine Lösung zeige: „Mein Aufenthaltsort sollte nicht zu einem diplomatischen Problem gemacht werden. Es sollte kein Druck auf dieses Gebiet ausgeübt werden.“

Später wurde bekannt, dass das Fax vom türkischen Generalstab kam. Die Nachricht war ein Vorbote dessen, was als nächstes geschehen sollte. Der Generalstab hatte bereits im August 1998 direkt eingegriffen und einen Waffenstillstand gefordert. In der Türkei machten zivilgesellschaftliche Organisationen und Intellektuelle und international auch das Europaparlament mit Aufrufen deutlich, dass ein solcher Schritt von der PKK erwartet wird, damit sich die Tür zu einer Lösung öffnet.

Abdullah Öcalan und Guerilla, Bekaa-Ebene/Libanon © Serxwebûn/ANF

Der Abend des 29. August

Am 21. August 1998 hieß es in einer Nachricht aus Ankara, die Pressesperre sei aufgehoben und es sei grünes Licht für die Teilnahme der türkischen Medien an einer bevorstehenden Pressekonferenz zum Waffenstillstand gegeben worden. Die erwartete Erklärung von Abdullah Öcalan erfolgte am Abend des 29. August 1998 per Telefon in einer von Günay Aslan moderierten Sendung bei MED TV, an der kurdische, türkische und internationale Journalistinnen und Journalisten teilnahmen.

Öcalan dankte den anwesenden Journalist*innen für ihre Anregungen zum Thema Frieden und erklärte, dass von der PKK unter anderem aus Europa seit langer Zeit erwartet werde, die Bedingungen für eine politische Lösung herzustellen. Auch aus der Türkei sei signalisiert worden, dass eine solche Initiative der PKK zu positiven Ergebnissen führen könne. Das habe ihm Mut gemacht:

„Ich möchte gleich dazu sagen, dass Krieg Wahnsinn ist, wenn er nicht aus einem sehr wichtigen Konflikt und einem sehr wichtigen Problem resultiert. Sinnloser Terror und Gewalt sind Phänomene, die in den Beziehungen der Menschheit niemals Raum einnehmen dürfen. Dass wir Opfer einer Gewalt sind, deren Wurzeln Jahrhunderte zurückreichen und die bis zum Völkermord führen kann, ist ein Thema, das uns sehr zu schaffen macht.

Ich möchte auch mitteilen, dass es uns nur glücklich machen kann, wenn der erste Schritt von uns gesetzt wird. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass es richtig ist, eine ähnliche Initiative zu starten wie die, die wir zur Zeit von Herrn Özal im April 1993 angestoßen haben und die – zwar nur sehr begrenzt – Hoffnung geweckt hat. Dabei habe ich mich mit meiner Organisation beraten und berücksichtigt, dass die äußeren Bedingungen und – noch wichtiger – die inneren Bedingungen der Türkei zunehmend schwerer werden.“

Öcalan erklärte weiter, die PKK sei zu einem unbefristeten Waffenstillstand ab dem 1. September bereit. Die Dauer der Waffenruhe hänge von der Reaktion auf diesen ersten Schritt ab, mit dem die Möglichkeit für ein Ende des Krieges geschaffen werden soll. Der Krieg nütze auch der Türkei nicht, sondern richte im Gegenteil großen Schaden an.

Newroz 1991 in der Bekaa-Ebene © Serxwebûn/ANF

Die inneren und äußeren Bedingungen seien günstiger als 1993 und ein Waffenstillstand entspreche den Erwartungen in der Türkei und im Ausland, so Abdullah Öcalan: „Wenn keine Operationen gegen uns durchgeführt werden und insbesondere die Guerilla nicht mit dieser Art von Operationen in einen Vernichtungsprozess gezwungen wird, wird es keinen Angriff unserer Guerilla geben, wir haben die Guerilla im Griff.“ Um die Lage zu besänftigen und die Atmosphäre für einen produktiven politischen Kampf entstehen zu lassen, werde die PKK keine Gewaltaktionen zulassen.

Öcalan betonte, dass der Waffenstillstand nicht als tagespolitische Taktik missverstanden werden dürfe. Die PKK stelle für das kurdische Volk und gleichzeitig für die Demokratie und Aufklärung in der Türkei eine der stärksten Kräfte dar und sei keineswegs separatistisch. Die Gewalt sei bis auf die Spitze getrieben worden und hätte zu keinen Ergebnissen geführt.

Weltweit zeige sich die Tendenz, Probleme gewaltlos zu lösen, diesem Verlauf müsse sich auch die Türkei zu ihrem eigenen Wohl anschließen. Der PKK müsse die Möglichkeit gegeben werde, ihre konsequente Haltung zur Demokratie der Völker zu zeigen.

Keine 24 Stunden später wurde der Knopf gedrückt

Der Aufruf Abdullah Öcalans zu einem Waffenstillstand rief am nächsten Tag ein weltweites Medienecho hervor. Die Augen richteten sich nun auf Ankara. Dass die Führungsriege des türkischen Staates an diesem Tag zu der Beerdigung eines bei einem Gefecht in Kurdistan getöteten Soldaten strömte, wurde als Antwort an Öcalan aufgefasst. Die türkischen Medien berichteten unter der Überschrift „Machtdemonstration gegen Apo“ von der Beerdigung. Anschließend erklärte Ministerpräsident Mesut Yilmaz: „Wenn die Aussichtslosigkeit des Kampfes gegen den türkischen Staat verstanden worden ist und ein Schritt für eine Kapitulation gesetzt wird, sehe ich das positiv. Wenn es sich jedoch um eine Finte handelt, um Raum in der Politikplattform Europas zu gewinnen, ist es umsonst.“ Die PKK sei für die türkische Regierung kein Gesprächspartner. Wenn sie hilflos sei und sich ergeben wolle, möge sie ihre Initiative fortsetzen. Ähnlich äußerte sich der damalige stellvertretende Ministerpräsident Bülent Ecevit: „Gespräche mit einer separatistischen Terrororganisation über die Probleme unseres eigenen Landes sind kein Thema.“

Die einzige Unterstützung für den Waffenstillstand kam von der HADEP. Die Parteizentrale erklärte: „Es ist die Gelegenheit für eine Diskussion über ein Ende des seit 15 Jahren andauerndes Krieges und eine Lösung der kurdischen Frage mit friedlichen und demokratischen Methoden entstanden. Kein gesellschaftliches Problem kann mit Gewaltmethoden gelöst werden und der Einsatz von Gewalt beseitigt gesellschaftliche Probleme nicht. Die Türkei braucht demokratischen Mut. Wer in der Türkei lebt und die Türkei und ihre Menschen liebt, muss zu dem Waffenstillstand beitragen.“

Druck auf die Regierung in Damaskus

In der ersten Septemberwoche machte Mesut Yilmaz eine Mittelosttour, die Besuche in Jordanien, Israel und Palästina umfasste. Auf seiner Agenda stand die Situation von Abdullah Öcalan. Bei den Gesprächen am 8. September in Palästina prangerte Yilmaz Syrien, das seine Reise durch den Mittleren Osten kritisierte, für seine Feindseligkeit an. Der Startschuss für den Druck auf Syrien war damit gefallen. Später sollte sich noch herausstellen, dass während Yilmaz' Besuch in Tel Aviv geheime Absprachen zwischen Jordanien, Israel und der Türkei getroffen wurden. Neben Yilmaz war auch der jordanische Geheimdienstchef, General Semih Batiki, nach Tel Aviv gereist. Der jordanische und der israelische Nachrichtendienst, die den Mittleren Osten kontrollierten, sollten Ankara Informationen über Abdullah Öcalan, der sich weiter in Syrien aufhielt, und über die Kräfte der PKK in Südkurdistan liefern. Im Gegenzug sollte der türkische Staat seinen Luftraum für Übungsflüge beider Länder öffnen. Die israelischen Medien schrieben damals, dass der MOSSAD mit einem Ofeq-Satellit die Bewegungen der PKK im Irak und in Syrien verfolgt.

Zentrale Parteischule in Damaskus, auf dem Tisch ein Bild von Zeynep Kınacı (Zîlan) © Serxwebûn/ANF

Zwei kritische Entwicklungen Mitte September

Für Öcalan stand inzwischen fest, dass die Bemühungen für eine Waffenruhe und die angebliche Dialogbereitschaft des türkischen Generalstabs eine Finte waren. Trotzdem wollte er nicht derjenige sein, der den Waffenstillstand bricht. Am 14. September erreichte die PKK eine weitere Botschaft des Generalstabs. Darin hieß es, dass die Gespräche bis zu einer zweiten Entwicklung unterbrochen werden. Was damit gemeint war, zeigte sich beim Besuch des damaligen Kommandeurs der türkischen Bodenstreitkräfte, Atilla Ateş, am 16. September 1998 in Hatay-Reyhanli. Bei der Inspektion der Grenze zu Syrien erklärte Ateş, die Geduld der Türkei sei erschöpft. Dabei handelte es sich um eine offene Drohung an die syrische Regierung unter Hafiz Assad.

Einen Tag später, am 17. September, sollte es auch in Washington zu einer kritischen Entwicklung kommen. In der Hauptstadt der USA wurden die Verhandlungen von Dublin und Ankara über eine Einigung zwischen den seit Jahren gegeneinander kämpfenden Parteien PDK und YNK fortgesetzt. An den Gesprächen waren auch die Türkei und England beteiligt. Barzanî und Talabanî unterzeichneten ein von der damaligen US-Regierung vorbereitetes Protokoll, mit dem sie einen Friedensschluss deklarierten.

Mesûd Barzanî zu Besuch bei Abdullah Öcalan © Serxwebûn/ANF

Unvergessen ist der Anblick, wie US-Außenministerin Madeleine Albright bei der feierlichen Unterzeichnung des Friedensabkommens die Hände von Barzanî und Talabanî in die Luft hob. Einer der wichtigsten Punkte der bei den Gesprächen erzielten Einigung betraf die Verdrängung der PKK aus Südkurdistan.

Mit beiden Entwicklungen wurde sowohl Abdullah Öcalan als auch der kurdischen Guerilla signalisiert, dass es keinen Rückzugsraum mehr für sie gibt. Damit waren sowohl die inneren als auch die äußeren Voraussetzungen für den ersten Vorhang des internationalen Komplotts geschaffen, der sich am 9. Oktober zutragen sollte...

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