„Lauf Tayyip, lauf – Die Frauen kommen“
Beim Feministischen Nachtmarsch in Istanbul sind über hundert Menschen festgenommen worden. Insgesamt 112 Personen wurden am Samstagabend wegen des Vorwurfs, gegen das türkische Versammlungsgesetz verstoßen zu haben, teils unter Gewaltanwendung von der Polizei in Gewahrsam genommen worden. Am Morgen nach dem Protest befand sich noch eine Frau am Sonntag weiter in einer Arrestzelle. Sie sollte zu weiteren Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft überstellt werden, teilten die Organisator:innen mit. Die Aktivistin werde der Präsidentenbeleidigung beschuldigt, weil sie die Parole „Lauf Tayyip, lauf – Die Frauen kommen“ skandiert hätte.
„Unser feministischer Kampf verändert unser Leben und die Welt“
Der 23. Feministische Nachtmarsch anlässlich des Frauenkampftags 8. März war am Freitag von den Behörden verboten worden. Zur Begründung wurde eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und den sozialen Frieden angeführt. Das Feministische Kollektiv Istanbul, das die Traditionsveranstaltung seit 2003 organisiert, zeigte sich unbeeindruckt von der Verbotsverfügung. Auch mehrere tausend weitere Menschen fanden sich trotz behördlicher Untersagung an ihrem Treffpunkt im zentralen Stadtteil Beyoğlu ein und setzten unter dem Motto „Unser feministischer Kampf verändert unser Leben und die Welt“ ein starkes Zeichen gegen Diskriminierung, Ungleichheit, Gewalt und Ausbeutung.

„Jin Jiyan Azadî“
Von verschiedenen Punkten starteten die Demonstrierenden einen Sternmarsch und zogen mit Trillerpfeifen, Fahnen und Plakaten zur Meile Sıraselviler. Auf den Transparenten waren Sprüche wie „Frieden und Frühling kommen mit den Frauen“, „Rebellion“ und „Die Welt wird sich verändern, wenn Frauen frei sind“ zu lesen und mit Sprechchören wie „Jin Jiyan Azadî“ (Frau, Leben, Freiheit) und „Wir werden nicht schweigen, wir haben keine Angst, wir leisten keinen Gehorsam“ machten die Demonstrant:innen auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam. Sie forderten die konsequente Umsetzung des Gesetzes Nr. 6284, das Gewalt gegen Frauen verhindern soll, und bekräftigten ihren Widerstand gegen patriarchale Strukturen und politische Repressionen. Sie erinnerten auch an Opfer von Feminiziden, indem sie Transparente mit Namen von Frauen trugen, die von Männern ermordet wurden, und prangerten die Angriffe auf Frauen in Nord- und Ostsyrien an.
Ein unaufhaltsamer Kampf für Freiheit und Gleichberechtigung
Ra Yavuz, eine der Sprecher:innen des Feministischen Kollektivs, betonte in einer Rede die internationale Dimension des feministischen Kampfes. Sie erinnerte an die Proteste von Frauen in Argentinien, im Nahen Osten, in Kurdistan, Palästina und in den USA, die sich gegen patriarchale Unterdrückung und Gewalt wehren. „Wir protestieren gegen eine Welt, die durch Kriege neu geformt werden soll, und lassen uns nicht zum Schweigen bringen“, so Yavuz. „Wir bestehen auf einer Welt ohne Diskriminierung, Ungleichheit, Gewalt und Ausbeutung. Unser feministischer Kampf wird nicht enden, bis eine gleichberechtigte und freie Welt geschaffen ist“, betonte die Aktivistin.

Nicht Jahr der Familie, sondern Jahr des Widerstands
Ein weiteres zentrales Anliegen war der Umstand, dass die AKP-Regierung von Recep Tayyip Erdoğan das Jahr 2025 zum „Jahr der Familie“ erklärt hat. Die Frauenbewegung in der Türkei verstehe dies als Kampfansage in Richtung von Menschen, die nicht einem traditionellen Familienbild entsprechend leben, sagte Ra Yavuz. „Als Antwort darauf werden wir 2025 zum Jahr des Widerstands machen.“ Sie betonte auch, dass die Stimmen zur Wiederaufnahme der Istanbul-Konvention lauter werden würden. Die Konvention dient zum Schutz der Frauen vor Gewalt, 2021 ist die Türkei offiziell aus dem Abkommen ausgetreten. Seither gab es nach Angaben der Plattform „Wir werden Frauenmorde stoppen“ (KCDP) einen massiven Anstieg von Feminiziden. 2024 soll sogar das Jahr mit der höchsten Zahl von Frauenmorden in der Türkei gewesen sein. Einem entsprechenden Bericht zufolge wurden im vergangenen Jahr mindestens 394 Frauen ermordet, 259 Frauen wurden unter verdächtigen Umständen tot aufgefunden.
Festnahmen nach friedlichem Abschluss
Nach dem offiziellen Teil der Demonstration skandierten die Frauen weiter Parolen wie „Das Patriarchat wird gehen, wir bleiben!“, „Wir überlassen weder die Nächte noch die Straßen noch die Plätze“ und „Es lebe unser feministischer Kampf!“, bevor sie die Kundgebung friedlich beendeten. Erst nach Abschluss der kämpferischen Veranstaltung führte die Polizei die Festnahmen durch.
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