Şervîn Nûdem: Jineolojî und Nagihan sind untrennbar verbunden

Şervîn Nûdem von der Akademie für Jineolojî teilt in einem Interview ihre Erinnerungen an die vom türkischen Geheimdienst MIT ermordete Frauenwissenschaftlerin und Journalistin Nagihan Akarsel.

Genau ein Jahr ist es her, seit die Frauenwissenschaftlerin und Journalistin Nagihan Akarsel am 4. Oktober 2022 vor ihrer Wohnung in Silêmanî vom türkischen Geheimdienst MIT ermordet wurde. In einem ANF-Interview spricht Şervîn Nûdem von der Akademie für Jineolojî über die Bedeutung von Nagihan Akarsel und ihr Leben.

Wie haben Sie Nagihan Akarsel kennengelernt?

Ich lernte Heval Nagihan kennen, als ich mich der Arbeit an der Akademie für Jineolojî anschloss. Im Herbst 2016 verbrachten wir zusammen Tage voller Begeisterung und Debatten in einem Dorf in Rojava. Bis dahin kannte ich Jineolojî hauptsächlich durch Publikationen und theoretische Analysen und versuchte, sie auf diese Weise zu verstehen. Ich betrachtete die Jineolojî als große Hoffnung, Lösungen für die Probleme von Frauen zu finden. Aber wie sollte das geschehen? Ich hatte viele Fragen dazu, wie die Jineolojî als alternative Sozialwissenschaft entwickelt werden könnte. In dieser Hinsicht war es für mich eine großartige Gelegenheit, von Heval Nagihan über die ersten praktischen Schritte und Erfahrungen der Arbeit in der Jineolojî zu hören und zu lernen. Mit leuchtenden Augen und einer vor Aufregung bebenden Stimme erzählte sie mir von den Fortschritten der Zeitschrift Jineolojî, den Diskussionen auf der ersten Jineolojî-Konferenz und der soziologischen Forschungsarbeit, die sie in Şengal über die Geschichte und Kultur der ezidischen Frauen durchgeführt hatte, bevor sie nach Rojava kam. Als sie das Wissen, die Weisheit und das Bewusstsein von Frauen, ihre Liebe und Analysen, die sie bei der Umsetzung von Jineolojî in die Praxis entdeckt hatte, mit mir teilte, begann ich Heval Nagihan kennen und lieben zu lernen und die historische Bedeutung und Wichtigkeit von Jineolojî auf einer tieferen Ebene zu erfassen. In diesem Sinne sind Jineolojî und Heval Nagihan für mich untrennbar verbunden und drücken eine Einheit aus, die dem Leben einen Sinn verleiht, es verschönert und befreit.

Nagihan Akarsel stand durch ihre Arbeit an der Spitze des Frauenfreiheitskampfes. Könnten Sie uns etwas über die Erfahrungen mit ihrer Arbeit berichten?

Während unseres gemeinsamen Aufenthalts dachte Heval Nagihan vor allem darüber nach, wie sich die Jineolojî von einem Konzept zu einer Theorie und von einer Theorie zu einer dauerhaften Institutionalisierung entwickeln könnte. Sie definierte die Jineolojî auf der theoretischen Ebene als die Wissenschaft der Frauen und des Lebens, die Wissenschaft der Frauenrevolution, die Wissenschaft der demokratischen Moderne und die Wissenschaft des freien Frauenlebens und versuchte, ihre Argumente zu erforschen. Sie suchte auf die Frage nach einer Forschungsmethode, die der Realität der Frauen entspricht, eine Antwort, die Gefühl, Introspektive, historisches Wissen, soziologische Daten und Lebensweisheit verbindet. Die Themen, mit denen sie sich beschäftigte, zu denen sie forschte und über die sie in ihren Gesprächen und Diskussionen über Bildung nachdachte, waren reichhaltig und vielschichtig. Sie versuchte, sie als ein Ganzes zu betrachten. Selbst wenn sie Nächte damit verbrachte, Zeitschriften zu redigieren oder Artikel zu schreiben, konnte sie beim Frühstück aufgeregt von den neuen Ideen erzählen, die ihr am Morgen eingefallen waren. Sie war unermüdlich, wenn sie sich ein Ziel setzte oder wenn sie entschlossen war, das Geheimnis einer Sache zu lüften. Mit dieser mitreißenden Energie motivierte sie uns alle.

Ich habe eine ganz besondere Art der Begeisterung bei Heval Nagihan erlebt, insbesondere als sie im Rahmen soziologischer Forschungssarbeiten nach Efrîn in Rojava ging und dort Untersuchungen anstellte. Sie reiste von Dorf zu Dorf und traf sich dort mit Frauen. Sie hörte ihren Geschichten und Melodien aufmerksam zu, sammelte Informationen und Dokumente über die Region sowie das historische und kulturelle Erbe von Efrîn und bat die Frauen um ihre Meinung dazu. Sie kam zu dem Schluss, dass Efrîn die Heimat von zwei Frauenrevolutionen war. Als sie im Frühjahr 2017 die Ergebnisse dieser Studie bei einem Treffen präsentierte, sagte sie: „Efrîn ist die Ursprungszelle der Frauenkultur. Unsere Wurzeln sind wirklich stark.“ Dabei strahlten ihre Augen erneut.

Sie war auch davon überzeugt, dass die Wurzeln der Kultur der Muttergöttin in ganz Mesopotamien vorhanden seien und nur darauf warteten, wiederbelebt zu werden. Aufgrund dieser These argumentierte sie, dass sich die Jineolojî-Arbeiten in Südkurdistan weiterentwickeln könnten. Noch bevor sie ihre Arbeit dort aufnahm, begann sie über konkrete Projekte nachzudenken, zu diskutieren und Informationen aus vielen Quellen zu sammeln. So wurde ich Zeugin davon, wie sie sich sorgfältig darauf vorbereitete, die Ziele, die sie sich gesetzt hatte – nämlich einen Bewusstwerdungsprozess bei den Frauen und in der Gesellschaft über ihre Bedürfnisse anzustoßen und sie auf dem Weg zur Freiheit voranzubringen – umzusetzen und ihre Träume und Projekte mit größter Beharrlichkeit praktisch werden ließ.

Nagihan Akarsel stellte den Kampf der Frauen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Mit Stift und Projekten trug sie den Widerstand von Frauen in die Welt. Welche Bedeutung hatte der Frauenfreiheitskampf für sie?

Sie lebte und kämpfte in Identität, Geist, Verstand, Gefühl und Haltung als Frau. Sie ging davon aus, dass Frauen eine zentrale Bedeutung und einen zentralen Platz im Leben haben. Ihre Definition von Frau umfasste das Leben, das kurdische Volk, die Menschheit und das Universum. Der Hauptgrund, warum Heval Nagihan so sehr mit dem Frauenbefreiungskampf verbunden war, war ihre ausgeprägte Suche nach Wahrheit. Ihre Rebellion gegen Unterdrückung, Entfremdung und Ungerechtigkeit war eine Seite von ihr. Aber damit gab sie sich nicht zufrieden. Ihr Wunsch, die Wahrheit, das Gute und das Schöne zu finden, zu leben und am Leben zu erhalten, war ebenfalls sehr stark. Sie glaubte daran, dass die Kultur der Muttergöttin in unserer Zeit aus ihren eigenen Wurzeln wieder erblühen sollte. Sie fand in der revolutionären kurdischen Frauenidentität, ihrem Kampf und ihrer Organisierung die freie Identität der Frau und die Freiheit des kurdischen Volkes.

Sie war von Rêber Apos [Abdullah Öcalan] Feststellung überzeugt, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Frau sein werde. Sie betrachtete das 21. Jahrhundert als das Zeitalter der Frauenrevolution und sah sich selbst in der Verantwortung, diese zu verwirklichen. Sie war der Überzeugung, dass dafür unabdingbar sei, dass Frauen überall ihr kulturgeschichtliches Gedächtnis und Erbe des Frauenkampfes in Anspruch nehmen müssten. Die Suche von Şehîd Nagihan nach einem holistischen Verständnis des Lebens, des Menschen und des Universums hatte sowohl philosophische und soziologische Aspekte als auch lebenspraktische Gründe. Sie wusste, dass Frauenorganisierung und ein langfristiger radikaler Freiheitskampf unabdingbar sind, um einen wirksamen Selbstverteidigungskrieg gegen die Zerstörungs-, Isolations- und Besatzungsangriffe des Systems der patriarchalisch-kapitalistischen Moderne zu führen und die Option auf ein freies Leben erneut zu schaffen.

Nagihan Akarsel engagierte sich insbesondere für die Frauen in Südkurdistan. Welchen Beitrag hat sie dort zur Entwicklung der Jineolojî und der Frauen dort geleistet?

Ein weiteres wichtiges Merkmal von Şehîd Nagihan war, dass sie sich überall, wo sie hinkam, zu Hause fühlte. Sie spürte den Schmerz der Frauen, ihre Kraft und ihre Hoffnungen in ihrem Herzen. Mit ihrer Liebe zum Leben und zur Menschlichkeit verband sie sich schnell mit den Menschen, insbesondere mit Frauen. Sie kannte den Glauben, die Geschichte und die kulturellen Eigenheiten Kurdistans gut und besaß ein tiefes patriotisches Bewusstsein und eine Intuition, die darauf abzielte, die Zersplitterung der Gesellschaft zu überwinden. Heval Nagihan war der Meinung, dass sich die Arbeit der Akademie für Jineolojî entsprechend den spezifischen Bedingungen und Bedürfnissen in Kurdistan entwickeln sollte, und sah sich selbst in der Verantwortung dafür.

Heval Nagihan versuchte, die Soziologie der Frauen und der Gesellschaft in Südkurdistan gründlich zu verstehen. Sie ging dabei von der Erkenntnis aus, dass die Revolution in Südkurdistan eine Revolution der Frauen ist. Sie machte Workshops sowohl mit Männern als auch mit Frauen. Jede Begegnung nutzte sie, um Neues über die Geschichte, Kultur und Sprache des Ortes zu lernen und ihr Wissen weiterzugeben. Gemeinsam mit den Frauen, die sie traf, führte sie viele neue Projekte durch, die von Bildung über die Veröffentlichung von Publikationen im Dialekt der Region bis hin zur Entwicklung kultureller Aktivitäten reichten.

Infolge dieser Begegnungen und aufgrund des großen Interesses konnte Heval Nagihan das Netzwerk und die Infrastruktur ihres großen Traums, des Projekts „Bibliothek, Archiv und Forschungszentrum für kurdische Frauen“, aufbauen. Dieses Projekt blühte auch nach dem Mord an Heval Nagihan weiter auf, da es, wie sie es ausdrückte, feste Wurzeln geschlagen hatte. So wurde am 24. Juni 2023 in Silêmanî von Nagihans Freundinnen die erste kurdische Frauenbibliothek eingeweiht. Diese Bibliothek soll Werke, Literatur und Selbstzeugnisse von Frauen aus allen Teilen Kurdistans zusammentragen.

Was waren ihre bezeichnendsten Eigenschaften?

Das Erste, was mir in den Sinn kommt, ist ihre Begeisterung, ihre Lebenslust und ihr Verantwortungsbewusstsein. Sie hatte eine wunderbare Form der Empathie. Aus einem kleinen Wort, einem Bild oder einem Symbol konnte sie große und tiefe Bedeutungen ableiten. Sie teilte ihre Gedanken dementsprechend und ließ sie dadurch reifen. Dann setzte sie diese in die Praxis und in neue Schöpfungen um. Die Informationen und Kommentare, die sie in den vielen Bildungsveranstaltungen, die sie durchführte, oder in den Artikeln, die sie schrieb, weitergab, basierten auf den Wahrheiten, die sie im Gespräch mit einer beliebigen Frau erfahren hatte. Sie war in der Lage, viele Themen im Auge zu behalten, für die sich andere Menschen nicht interessierten, und machte sie dann zum Gegenstand ihrer Forschung. Ihr Einfühlungsvermögen, ihre Liebe zum Leben, ihre Verbundenheit mit der Natur, der Region und der Geschichte basierten auf ständigem Lernen. Sie war keine Selbstverleugnerin, hielt aber weder sich selbst noch das durch den Freiheitskampf erreichte Niveau für ausreichend. Sie konnte ungeduldig sein, wenn die Dinge langsam voranschritten. Denn als revolutionäre Frau hatte sie ein großes Ziel. Sie versuchte, jede Gelegenheit zu nutzen und neue Möglichkeiten zu schaffen, um ihren Traum von einem freien Leben, freien Frauen und einer freien Gesellschaft zu verwirklichen. Sie bemühte sich um einen herzlichen und bedeutungsvollen Austausch mit allen Menschen, von jung bis alt.

Gab es Projekte, die sie nicht abschließen konnte? Was waren ihre Perspektiven und Träume?

Sie unternahm enorme Anstrengungen, um ihre Projekte und Träume zu verwirklichen, und es gelang ihr, neue Wege zu öffnen und neue Methoden zu entwickeln. In dieser Hinsicht verwirklichte sie ihre Träume in ihrer eigenen Arbeit und ihrem Kampf oder pflanzte den Samen für deren Realisierung.

Wie für uns alle war auch für Heval Nagihan der größte Traum, genauer gesagt, ihr Ziel, so bald wie möglich die physische Freiheit von Rêber Apo durchzusetzen. Sie träumte von dem Tag, an dem sie die Möglichkeit haben würde, ihn persönlich zu treffen und viele Themen mit ihm zu besprechen. Sie sah das nicht als Traum, sondern als eine Aufgabe, die wir erfüllen müssen. Sie erlebte diesen Schmerz und das Gefühl, etwas schuldig zu sein, tief in ihrem Innersten, und hielt immer die Hoffnung am Leben, dass sie Rêber Apo eines Tages treffen würde.

Was ist das Vermächtnis von Nagihan Akarsel für den weltweiten Frauenkampf?

Als Revolutionärin hinterließ sie uns ihr Beharren auf der Einheit von Gefühl, Denken und Handeln, das sie in ihrer eigenen Persönlichkeit verwirklichte, sowie ihre tiefe Liebe und Genossinnenschaftlichkeit (Hevaltî), die sie lebte und teilte. Sie war zutiefst davon überzeugt, dass Frauen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, in ihren gemeinsamen Wurzeln zusammenfinden. Durch ihre Forschungen und Schriften zu diesem Thema erklärte sie die Jinerjî (Energie der Frauen) des Internationalismus. Diese Energie bildet das verbindende Element der Einheit unter den Frauen, die sich in der magischen Formel von Jin-Jiyan-Azadî treffen. Sie definierte auch die Jineolojî als die Wissenschaft dieser Jinerjî. Die Vergesellschaftung und Universalisierung der Jineolojî als Wissenschaft der Frauen und des Lebens erachtete sie als von strategischer Bedeutung. Sie sah darin einen der wichtigsten Schritte, um die Frauenrevolution und den Aufbau des Weltfrauenkonföderalismus Schritt für Schritt zu erreichen. Wir können dieses Ziel und dieses Gefühl von Heval Nagihan als das größte Vermächtnis betrachten, das sie uns hinterlassen hat.

Wie können wir ihr nun folgen?

Indem wir Xwebûn umsetzen – unser Sein in der Harmonie zwischen dem Universellen und dem Lokalen verwirklichen, indem wir uns unserer eigenen Existenz und Kraft bewusst werden ... Mit Liebe und Hevaltî leben und kämpfen ... Auf Kampf und Liebe zum Leben beharren ... Dies sind einige Anhaltspunkte, um den Weg von Nagihan zu beschreiten. Natürlich ist es eine unserer wichtigsten Aufgaben, die Projekte, die Nagihan uns hinterlassen hat, aufzunehmen und weiterzuführen. Wir werden in diesem Sinne den Weg von Nagihan gehen, ihre Mörder zur Rechenschaft ziehen und dafür kämpfen, jeden weiteren Femizid zu verhindern.