Şehbal Şenyurt Arınlı – drei Jahre Exil in Deutschland

Kurzportrait der Menschenrechtsaktivistin, Filmemacherin und Schriftstellerin Şehbal Şenyurt Arınlı, die 2017 aus der Türkei fliehen musste und als „Writer in Exile“ des PEN-Zentrums ihren Kampf für Gerechtigkeit und Demokratie mit spitzer Feder fortführt

Şehbal Şenyurt Arınlı aus Giresun ist eine besondere Frau: Menschenrechtsaktivistin, Journalistin, Schriftstellerin, Filmproduzentin, die erste Kamerafrau in der Türkei. 2004 gründete sie die unabhängige Filmagentur SUFilm. Ihre Werke, unter anderem „Sulhname“ (Das Friedensbuch) oder „Kırlangıcın Yuvası“ (Das Nest der Schwalbe), wurden in zahlreichen Ländern gezeigt.

In der Kommission für Ökologie des DTK (Demokratischer Gesellschaftskongress, ku. KCD) war sie Mitglied und kandidierte 2011 für die BDP (Partei des Friedens und der Demokratie). Sie gehört zu den Gründungsmitgliedern der Frauennachrichtenagentur JINHA und schrieb für Özgür Gündem, ehe diese Zeitung verboten wurde.

Die Themen in Şenyurt Arınlıs Arbeiten sind Kampf für die Rechte der Frauen und Minderheiten, die Unterdrückung der Kurd*innen, Exil, Verbannung und ökologische Fragen.

Aufgrund ihrer politischen und journalistischen Aktivitäten blieb es nicht aus, dass der türkische Staat die Menschenrechtlerin ins Visier nahm. Im Juli 2017 wurde sie unter dem Vorwurf der PKK-Mitgliedschaft festgenommen. Durch einen Zufall innerhalb des Justizapparats kam sie kurze Zeit später wieder frei, aber ihr war klar, dass sie in der Türkei keine Zukunft haben würde. Sie entschloss sich zur Flucht.

Im Juli 2017 kam Şenyurt Arınlı nach Deutschland und wurde von der Schriftstellervereinigung PEN (Poets, Essayists, Novelists) als Stipendiatin in das Programm „Writers in Exile“ aufgenommen. Seit September 2017 lebt und arbeitet sie in Nürnberg.

Schon kurz nach ihrer Ankunft zeigte die Aktivistin mit dem Medya Volkshaus Nürnberg den Film „Sara - Jiyana Min Her Şer Bû“ (Mein ganzes Leben war ein Kampf, 2015). Es war in Nürnberg die erste Präsentation des Dokumentarfilms über das Leben der PKK-Mitbegründerin Sakine Cansız, die 2013 in Paris mit Fidan Doğan und Leyla Şaylemez im Auftrag des türkischen Geheimdienstes MIT ermordet wurde. Şenyurt Arınlı wirkte als Produzentin an dem Film mit und berichtete über die Dreharbeiten und die Interviews mit den Weggefährt*innen von Sakine Cansız.

Writers-in-Exile Stipendiatin Şehbal Şenyurt Arınlı bei einer PEN-Veranstaltung neben einem leeren Stuhl, der an den zu Unrecht inhaftierten Politiker und ehemaligen Ko-Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş, erinnerte © PEN-Zentrum

 

Am Anfang ihres Exils prägte noch das Gefühl des Nicht-Dazu-Gehörens das Leben der Schriftstellerin. In ihren Tagebuch-Aufzeichnungen schreibt sie 2017: „…. Wieder einmal wurden Koffer gepackt, wieder stand ein Umzug an, erneut Leben aus dem Koffer. Eben wie bis drei Nächte zuvor. Zudem bleibt da sowieso die Frage: In der Heimat, wo war das? Außerhalb der Heimat, wo ist das? Heimat überhaupt, wo? …“

Doch Şenyurt Arınlı kämpfte sich durch die Fremdheit, knüpfte Kontakte zu Frauenorganisationen, bot für eine Gruppe von Jugendlichen Workshops über Radio-Arbeit beim Freien Radio Z an und wird zu Lesungen eingeladen.

Allmählich ist Şenyurt Arınlı in der neuen Fremde angekommen, findet sich zurecht, aber auch nach zwei Jahren ist sie ihrer Heimat gedanklich verbunden, registriert alle Nachrichten und Erzählungen:

„Mein zweites Jahr hier geht zu Ende. Was hat sich in diesen zwei Jahren in dem Land geändert, das ich hinter mir lassen musste? Auch wenn hin und wieder ein Schimmer Hoffnung aufflackert, im Grunde nichts! Noch immer landen tausende von Menschen im Gefängnis, weil sie ihre Meinung gesagt haben; Selahattin Demirtaş, Gültan Kışanak, Osman Kavala, Nedim Türfent, Ahmet Altan… und viele uns vom Namen her mehr oder weniger bekannte Leute. Die Flutung von Hasankeyf, der Bergbau beim Naturschutzgebiet im Ida-Gebirge, das Kernkraftwerk am erdbebengefährdeten Standort Mersin-Akkuyu, Eingriffe auf den Almen an der Schwarzmeerküste, das Wasserkraftwerk am Munzur…hunderte Hektar gerodete oder abgebrannte Waldflächen … ausgetrocknete Flussbette … Mögen die Paläste bestimmter Leute immerdar ihren Glanz verbreiten – immer schneller schreitet die Naturzerstörung voran, so wie es seit Jahrhunderten und auch in anderen Ländern der Fall ist. Militärische Einfälle in Nordsyrien werden in zwischenstaatlicher Absprache ausgeweitet, die Zypern-Problematik spitzt sich wieder zu … Folter in Gefängnissen und die Probleme der erkrankten Gefangenen halten an, wichtiger noch, die Zahl der Kinder in den Gefängnissen nimmt ständig zu. Wegen Überfüllung der Zellen schlafen Häftlinge in Tag- und Nachtschichten und viele neue Gefängnisse werden gebaut. Was soll man noch sagen?“

Das PEN-Zentrum vermittelt schließlich den Kontakt zur deutsch-ungarischen Schriftstellerin und Drehbuchautorin Terézia Mora. Die beiden Frauen schreiben sich bald Briefe, tauschen sich aus über Persönliches und Politisches, über Fremdsein, Hoffnungen und Träume. Aus diesem intensiven Briefwechsel entsteht das erste gemeinsame Buch „Zwei Autorinnen im Transit: Ein Dialog“ (binooki Verlag, Berlin 2019).

Daraufhin folgten viele Lesungen. Şenyurt Arınlı ist angekommen in der hiesigen Literaturszene, wird nachgefragt, wenn es um eine Stimme geht, die unermüdlich die elenden Zustände in der Türkei anprangert und Recht und Gerechtigkeit einfordert.

Ende Dezember fand im Gemeinschaftshaus Langwasser in Nürnberg ihre bisher letzte Lesung statt, pandemiebedingt nur online, dafür aber hier nachzuhören. Şehbal Şenyurt Arınlı liest aus dem (noch unveröffentlichten) „Leben aus dem Koffer – Vom Tagebuch einer Eremitin zum Tagebuch einer Exilantin“. Ihre deutsche Stimme ist die Kinderbuchautorin Yvonne Richter, musikalisch wird die zweisprachige Lesung von „Max” Marcus Stadler begleitet.

Dass die Aktivistin auch im deutschen Exil gegen Unterdrückung und Rechtslosigkeit in der Türkei anschreibt und ihren Kampf für Demokratisierung fortsetzt, macht sie gleich bei ihrer Vorstellung deutlich. Und gibt sie ihren Zuhörern einen Eindruck vom alltäglichen Leben und Leiden unter dem türkischen Regime:

„Um welche soll man trauern? Es kommt vor, dass elf Personen in einer einzigen Familie ermordet werden. Man zwingt Menschen, sie bäuchlings auf den Dorfplatz zu legen. Die Gendarmen des Staates trampeln ihnen auf dem Rücken herum und brüllen „Wir lehren euch die Macht des Staates!“ Gelingt es den Kindern dieser Leute nicht, dem Staat zu erklären, was sie quält, gehen sie in die Berge. Dann heißt es „Terroristen“. Warum? Sie haben sich gegen den Staat gestellt. Sie haben Rechenschaft gefordert….“.

Wahlplakat von Şehbal Şenyurt Arınlı als Kandidatin des „Blocks der Arbeit, Demokratie und Freiheit”, zu dem sich siebzehn kurdische, linke und sozialistische Parteien wie die BDP, die Emek Partisi und weitere für die Parlamentswahl in der Türkei 2011 zusammengeschlossen hatten.