„Wir fordern Gerechtigkeit für Suruç!“

Der Überlebende des Massakers von Pirsûs, Kenan Yıldızerler, erklärt: „Und wenn nicht sechs, sondern 106 Jahre vergehen, wir werden weiterhin für Suruç und für alle Gerechtigkeit fordern!“

Kenan Yıldızerler war einer von Hunderten von Menschen, die vor sechs Jahren dem Aufruf der Föderation sozialistischer Jugendverbände (SGDF) folgten und sich in der nordkurdischen Stadt Pirsûs (tr. Suruç) versammelten, um Spielzeug in die vom „Islamischen Staat” (IS) zerstörte Stadt Kobanê zu bringen. Doch soweit sollte es nicht kommen. Am 20. Juli 2015 verübte ein Selbstmordattentäter des IS einen Anschlag unter den versammelten Menschen. 33 überwiegend sehr junge Menschen wurden getötet, viele weitere erlitten Verletzungen. Anlässlich des sechsten Jahrestags des Massakers von Pirsûs hat sich Yıldızerler gegenüber ANF zum dem Anschlag und dem folgenden Kampf um Gerechtigkeit geäußert.

„Als ob gewollt war, dass wir unseren Zielort schnell erreichen“

Der damals als Händler in Istanbul arbeitende Kenan Yıldızerler hatte sich aufgrund von Plakaten zur Wiederaufbaukampagne für Kobanê dazu entschlossen, zu helfen. Er erzählt: „Als ich die Plakate mit Bildern der zerstörten Stadt sah, schmerzte es mein Gewissen und ich beschloss, nach Kobanê zu gehen und zu helfen.“ Er brach von Istanbul-Kadıköy in einem Bus zusammen mit vielen anderen, die er zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte, nach Pirsûs auf. Obwohl den Sicherheitsbehörden eine Namensliste der Teilnehmer:innen vorlag, wurde der Bus während der zwanzigstündigen Reise unzählige Male von der Polizei durchsucht und die Personalien der Mitfahrenden festgestellt. Insbesondere in Pozantı wurde der Bus lange festgehalten. Yıldızerler fiel jedoch auf, dass am Eingang von Pirsûs praktisch keine Kontrolle stattfand. Er sagt: „Wir waren der letzte Bus, der nach Suruç hineinfuhr. Wieder wurde der Bus herausgewunken. Aber es war nicht so wie überall sonst, sie haben uns nicht festgehalten und auch unsere Personalien nicht festgestellt. Das irritierte uns damals. Es war so, als hätten sie gewollt, dass wir unseren Zielort schnell erreichen.“

Zwei Schritte entschieden über Leben und Tod“

Der Überlebende berichtet weiter: „Da die Behörden verkündeten, wir dürften nicht alle nach Kobanê fahren, warteten wir auf das Ergebnis der Verhandlungen mit den Behörden über die Ausreise einer Delegation der Anwesenden in die umkämpfte Stadt. Wir waren müde. Die Freund:innen hatten für uns Frühstück im Garten des Amara-Kulturzentrums zubereitet. Wir setzten uns hin und frühstückten. Ich hatte Hatice Ezgi Sadet gerade kennengelernt. Wir waren im selben Bus gefahren und beim Teetrinken ins Gespräch gekommen. Wir hatten gewitzelt: ‚Schon wieder Tee von hier.‘ Ich hatte gesagt, ich könnte nur geschmuggelten Tee trinken. Sie überraschte mich beim Frühstück und brachte mir eine Tasse geschmuggelten Tee. Natürlich wusste ich es damals nicht, aber das war unser letztes Gespräch. Nach dem Frühstück luden wir die Bücher, Notizbücher, Stifte und Spielzeuge von den Bussen ab. Dann verteilten sich alle. Wir fingen an, uns zu entspannen und in Gruppen von drei oder fünf Personen unter den Bäumen zu plaudern. Mir wurde dann gesagt, dass eine Pressekonferenz stattfinden würde. Wir versammelten uns. Zuerst war ich mittendrin, dann ging ich neben das Banner. Es gab eine höllische Explosion. Chaos brach aus, es roch verbrannt. Überall lagen zerfetzte Leichen. Ich konnte nichts mehr hören. Viele Menschen wurden getötet und verletzt. In dem ganzen Chaos begriff ich nicht, dass auch ich verletzt war. Wir versuchten, die Verletzten zu bergen. Ich habe zwei Personen vor das Tor des Gartens gebracht. Als ich den dritten Freund trug, brach ich plötzlich zusammen. Da wurde mir klar, dass mein linkes Bein und meine Hüfte mit Blut bedeckt waren, und ich erkannte, dass ich verletzt war. Drei Schrapnelle der Bombe hatten mein Bein und meine Hüfte getroffen. Ich fiel um wie ein gefällter Baum. Es stellte sich heraus, dass mich zwei Schritte vom Tod getrennt hatten.

Die Polizei schoss mit Tränengas auf die Verletzten“

Als nächstes weiß ich, dass die Polizisten in den Hof, wo die Verwundeten auf dem Boden lagen, Tränengas schossen. Sie hätten die verwundeten Überlebenden fast erstickt. Sie waren so voller Hass, dass sie die Überlebenden mit ihrem Pfefferspray töten wollten. Das alles geschah direkt vor mir. Dann sperrten sie zwei Straßen vor dem Kulturzentrum ab und verhinderten das Durchkommen der Krankenwagen. Die Krankenwagen trafen daher erst mit Verzögerung ein. Stattdessen eilte uns die Bevölkerung zu Hilfe. Die Polizei ging auch gegen Menschen vor, die Verwundete in Privatfahrzeugen ins Krankenhaus bringen wollten. Ich saß ganze zehn Minuten verletzt da und sah, was die Polizei Schreckliches tat. Ich habe gesehen, wie sie die Wege blockierte und Pfefferspray einsetzte.“

Polizist: „Den konntet ihr wohl nicht umbringen“

Yildizler sagt, dass die Verwundeten in erster Linie ins Gesundheitszentrum von Pirsûs gebracht worden seien. Dort waren sie erneut der Gewalt von Spezialeinheiten der Polizei ausgesetzt. Die Polizei verkündete immer wieder, ein zweiter Selbstmordattentäter könne sich im Gesundheitszentrum befinden. Als Yildizler vor dem Zentrum darauf wartete, dass die schwerer Verletzten behandelt würden, hörte er einen vermummten Polizisten einer Spezialeinheit: „Den konntet ihr wohl nicht umbringen.“ Da er Schwerverletzten den Vortritt lassen wollte, kehrte Yıldızerler nach sieben Tagen nach Istanbul zurück. Dort wurde er behandelt, aber die Schrapnelle konnten nicht entfernt werden, weil sie sehr nah an den Venen liegen.

Nicht das erste Massaker“

Er habe keinen psychischen Zusammenbruch aufgrund des Anschlags erlitten, sondern sei voller Wut gewesen, sagt Yıldızerler und führt aus: „Es war nicht das erste Mal, dass in diesem Land ein Massaker stattgefunden hat. Deswegen hat es mich nicht traumatisiert.“ Yıldızerler hat auch die dunkle Zeit in den 1990er Jahren miterlebt und ist seit 20 Jahren Mitglied der Istanbuler Niederlassung der Menschenrechtsvereins IHD. Er betont, dass ihm dieses Gesicht des Staates nur zu gut bekannt ist. Er war auch einer derjenigen, die nach dem Bombenanschlag auf das Gebäude der Zeitung Özgür Ülke 1994 schnell vor Ort waren. Er erinnert sich: „Die Özgür Ülke war eine Zeitung, die ich las. Als ich von der Explosion hörte, ging ich sofort nach Kadirga und fragte die Freunde dort, was ich tun kann. Gemeinsam sammelten wir die Ausrüstung aus den Trümmern. Ich werde nie vergessen, dass die Zeitung am Tag nach dem Angriff mit der Schlagzeile herauskam: ‚Dieses Feuer wird auch euch verbrennen.‘ Ich habe dann dort drei Jahre lang ehrenamtlich als Chauffeur gearbeitet.“

Wir werden weiter Gerechtigkeit für Suruç fordern“

Yildizler klagt an, dass er seit sechs Jahren auf Gerechtigkeit wartet. Während nur ein einziger Angeklagter wegen des Massakers vor Gericht gestellt worden ist, seien die Familien der Opfer des Massakers und die Überlebenden wegen der Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Rechte vor Gericht gestellt und inhaftiert worden. „Leider sind die Richter und Staatsanwälte, die auf das Recht vereidigt wurden, aufgrund politischer Einflussnahme nicht in der Lage, den Fall abzuschließen. Trotz unserer Forderungen ist das Gericht nicht einmal bereit, für die physische Anwesenheit des einzigen Angeklagten zu sorgen. Der Angeklagte nimmt seit sechs Jahren über Video an den Verhandlungen teil. Wir werden weiterhin Gerechtigkeit für Suruç und Gerechtigkeit für alle fordern, auch wenn es nicht sechs Jahre, sondern 106 Jahre dauern sollte. Eines Tages wird die Wahrheit ans Licht kommen."