Wenn der türkische Staat Gespräche auf Imrali führt

Vor kurzem sollen Vertreter des türkischen Staates ein Gespräch über Efrîn mit Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali geführt haben.

Es ist der 20. Juli 2013. Auf der Insel Imrali landet ein Hubschrauber. Die Ankunft eines Hubschraubers hat auf Imrali eine politische Bedeutung. Es bedeutet, dass eine staatliche Abordnung eingetroffen ist. So ist es auch an diesem Tag.

Die Abordnung wird angeführt von dem damaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Beşir Atalay. Weiterhin sind der Inspektor für öffentliche Sicherheit, Muhammed Dervişoğlu, und mehrere Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes MIT dabei.

Das Gespräch mit Öcalan dreht sich um den so genannten „Lösungsprozess“, wie die vermeintlichen Friedensverhandlungen damals genannt wurden. Hauptthema sind Rojava und Syrien.

Öcalan macht der türkischen Abordnung eine Reihe von Vorschlägen zur Zukunft von Syrien und Rojava. Beşir Atalay erklärt, dieses Projekt werde im Nationalen Sicherheitsrat beraten werden. Zu Öcalan sagt er: „Wir werden Dinge tun, die Ihnen nicht im Traum einfallen würden.“

In dem mehrstündigen Gespräch teilt die staatliche Abordnung Öcalan auch den Inhalt eines Briefes der KCK aus Kandil mit. Es wird über viele Aspekte des „Lösungsprozesses“ gesprochen, aber das Hauptthema bleibt Syrien. Anschließend verlassen Atalay und seine Gruppe die Insel.

Einen Tag später, am 21. Juli 2013, trifft die HDP/DBP-Abordnung auf Imrali ein. Selahattin Demirtaş und Pervin Buldan sind allerdings nicht mit dem Hubschrauber, sondern mit einem Boot gekommen.

Demirtaş informiert Öcalan über die Entwicklungen in Rojava und berichtet von einem Gespräch mit Ahmet Davutoğlu über die Angriffe der al-Nusra und der FSA. Öcalan wiederum wertet das Gespräch mit den staatlichen Vertretern aus und teilt mit, dass seine Vorschläge im Nationalen Sicherheitsrat beraten werden und er eine Antwort aus Ankara erwarte. Und er fügt hinzu: „Eine Lösung in Syrien bedeutet eine Lösung in der Türkei und umgekehrt. Ich hoffe, sie wird umgesetzt.“ Öcalan teilt außerdem mit, dass er einen Brief der KCK erhalten habe und beantworten werde.

Zwei Tage später

Es ist der 23. Juli 2013. Ein Auto, das von Bursa nach Ankara unterwegs ist, stößt in Inegöl mit einem Lastwagen zusammen, der Zucker geladen hat. Das Auto wird dabei völlig zerstört. Passanten versuchen, den PKW-Fahrer zu bergen. In den Zeitungen steht später, dass der Fahrer eine Tasche umklammert und keinesfalls loslassen will.

Es handelt sich um Ahmed Duzman, der seit 1999 Leiter der Strafvollzugsanstalt Imrali ist. Er wird verletzt in die Notaufnahme des Staatskrankenhauses in Inegöl eingeliefert. Selbst dort lässt er die Tasche nicht los, denn sie enthält „geheime und wichtige Dokumente“. Duzman sollte sie von Imrali nach Ankara bringen. Öcalan ließ alle seine Schriftsätze über den Gefängnisdirektor weiterleiten.

Wir wissen, dass Duzman bis Dezember 2015 sein Amt auf Imrali beibehalten hat.

Öcalan bestätigte in späteren Gesprächen, an beide Seite Briefe geschrieben zu haben, in denen es um eine Lösung in Rojava und Syrien ging. Es handelte sich sogar um mehrere Briefe. Die kurdische Seite hat jedoch niemals einer dieser Briefe erreicht. Vielleicht sollte ja auch verhindert werden, dass diese Lösungsvorschläge in Ankara ankommen. Sollten sie Ankara dennoch erreicht haben, so ist jedenfalls nie eine Antwort darauf ergangen.

Im Juli fand keine Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates statt. Nach der Sitzung im August intensivierten sich die Angriffe der FSA und al-Nusra auf Rojava. Der sogenannte „Lösungsprozess“ war eigentlich in dieser Zeit beendet. Öcalan beantwortete Erdoğans Drohungen mit der Botschaft: „Rojava ist unsere rote Linie.“

Was geschah dann?

Die Gespräche wurden mit denselben Inhalten fortgesetzt. Mit dem Angriff auf Kobanê nahm der Prozess eine andere Form an. Auf der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats vom 30. Oktober 2014 wurde ein Konzept zur Niederschlagung der kurdischen Bewegung beschlossen.

Das letzte Gespräch Öcalans mit der HDP-Abordnung fand am 5. April 2015 statt.

Es folgten die Parlamentswahlen vom 7. Juni. 18 Tage später, am 25. Juni 2015, traf die staatliche Abordnung ein weiteres Mal auf Imrali ein. Bei diesem Gespräch äußerte ein staatlicher Vertreter gegenüber Öcalan: „Sie übertreiben sehr beim Thema Rojava. Wenn wir wollen, starten wir an einem Tag 250 Kampfflugzeuge und machen alles dem Erdboden gleich.“

Zeitgleich fuhr eine Fahrzeugkolonne des IS von Pirsûs (Suruç) über den Grenzübergang Murşitpınar nach Kobanê und ermordete über 250 Zivilisten.

Der Staat spielte ein doppeltes Spiel. Ein weiteres Gespräch mit Öcalan fand nicht statt.

Der Zusammenhang zwischen damals und heute

Warum wiederhole ich diese Fakten heute? Dafür gibt es angesichts der aktuellen Entwicklungen mehrere Gründe:

Erstens soll verdeutlicht werden, dass der größte Kampf immer auf Imrali stattfindet. Die Insel ist immer im Blickfeld, wenn die Dimension einer bevorstehenden Zerstörung ausgemessen wird. Jeder Angriff auf die Kurden ist darauf fokussiert.

Zweitens hat Murat Karayilan vor einigen Tagen erklärt, dass eine staatliche Abordnung zur Zeit des Krieges in Efrîn erneut auf Imrali gewesen sei und von Öcalan gefordert habe, er solle die Kräfte in Efrîn dazu bewegen, sich zurückzuziehen. Öcalan habe dieses Ansinnen zurückgewiesen, daraufhin sei das Isolations- und Foltersystem auf Imrali verstärkt worden.

Karayilan hat keine Einzelheiten genannt und eine ausführliche Erklärung zu einem späteren Zeitpunkt angekündigt. Auch zu dem Zeitpunkt besagten Gespräches äußerte er sich nicht. Vermutlich hat es jedoch zu der Zeit stattgefunden, als das Öcalan-Bild in Efrîn tagelang von Kampfflugzeugen bombardiert wurde und die Aufnahmen großflächig in den türkischen Medien verbreitet wurden.

Bestimmte Kreise haben diese Situation als verdeckte „Hintergrundverhandlungen“ interpretiert. Nein, darum geht es nicht. In Anbetracht der Erfahrungen aus der Vergangenheit lässt sich festhalten, dass auf Imrali niemals auf eine Lösung ausgerichtete Verhandlungen stattgefunden haben. Sollte auf Imrali ein Gespräch zum Thema Efrîn gelaufen sein, dann war es genauso wie das Gespräch vom 25. Juni 2015, als zeitgleich 250 Zivilisten in Kobanê ermordet wurden.

Sollte es also tatsächlich ein solches Gespräch gegeben haben, dann ist es kein positives Anzeichen, sondern eher ein negatives. So ist es nämlich bereits seit Jahren.

Drittens hat sich alles, was Öcalan zu Rojava und Syrien geäußert hat, als richtig herausgestellt. Mit den Angriffen auf Efrîn und andere Gebiete Rojavas hat eine neue Phase eingesetzt. Der Staat weiß, dass es sich bei dem Projekt Rojava um das Werk Öcalans handelt. Er greift nicht nur dieses Werk, sondern noch viel mehr den Ideengeber an.

Letztendlich macht der Faschismus niemals Zugeständnisse oder Ausnahmen. Tut er es, ist es vorbei mit ihm. Vom Faschismus ein lösungsorientiertes Gespräch zu erwarten, ist mehr als naiv.