Der kurdische Aktivist Mirza Bilen, der in Deutschland nach Paragraph 129b StGB verhaftet und zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde, ist im August nach zwei Jahren und drei Monaten Haft entlassen worden. Weil er in Frankreich einen Aufenthaltstitel als Asylberechtigter hat, wurde er unmittelbar nach seiner Entlassung aus der Haft nach Frankreich abgeschoben. Jetzt hat sich Bilen zu seiner Verfolgungsgeschichte in der Türkei und Deutschland geäußert: „Angefangen in Cizîr [tr. Cizre] aus, wo ich geboren wurde, hat die Unterdrückung nie aufgehört. Wir haben unseren Widerstand gegen diesen Druck immer fortgesetzt."
„Mein Dorf wurde niedergebrannt, mein Bruder vom Staat ermordet“
Mirza Bilen wurde 1986 in Cizîr in der Provinz Şirnex (Şırnak) geboren. Seine Kindheit verbrachte er in einem Umfeld, in dem er der Unterdrückung und Gewalt des türkischen Staates ausgesetzt war. In den 1990er Jahren war auch Bilens Dorf von den staatlichen Zwangsräumungen betroffen, es wurde niedergebrannt. Seine Familie zog in eine Metropole in der Türkei, um der Unterdrückung zu entgehen. Die Verfolgung ging jedoch auch dort weiter. Am 24. März 1994 wurde Bilens älterer Bruder während des Newroz-Festes von staatlichen Kräften ermordet. Die Unterdrückung setzte sich auch an der Universität fort. Mirza Bilen kämpfte gegen die Unterdrückung, Ausbeutung und Assimilierung durch den türkischen Staat. Viele seiner Freund:innen wurden verhaftet.
Nach dem Selbstverwaltungswiderstand in kurdischen Städten kam er 2015 nach Frankreich und beantragte Asyl. Er hat das Land, in dem er geboren und aufgewachsen ist, nicht verlassen, um sich ein Leben in Europa aufzubauen oder aus wirtschaftlichen Gründen. Er musste wegen der Unterdrückung und Verfolgung durch den türkischen Staat ins Ausland gehen. Nach seiner Ankunft im Ausland setzte er diesen Kampf fort. Nach fünf Jahren erhielt er in Frankreich eine Aufenthaltsgenehmigung. Am 7. Mai 2021 wurde er in Nürnberg festgenommen und anschließend verhaftet. Bilen wurde nach §129b StGB angeklagt und wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland" zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Nach Verbüßung von zwei Jahren und drei Monaten Haft wurde er sofort nach seiner Entlassung nach Frankreich abgeschoben.
„Weil ich dem Druck nicht nachgegeben habe“
Deutschland verhafte kurdische Aktivist:innen aufgrund gemeinsamer Interessen mit der Türkei, meint Mirza Bilen. Der Kampf eines Volkes, das unter Druck steht und dem die Vernichtung droht, sei legitim: „Der Grund für meine Verhaftung war, dass ich die Unterdrückung meines Volkes durch den türkischen Staat nicht akzeptiere. Wie viele patriotische Menschen in Europa habe ich den gerechten Kampf meines Volkes hier fortgesetzt. Bedauerlicherweise lässt der deutsche Staat, der sich selbst als Verfechter von Freiheit, Gleichheit und Menschenrechten bezeichnet, uns, die wir für Gleichheit, Freiheit und Grundrechte kämpfen, verhaften. Der höchst legitime Kampf meines Volkes wird als ,Terrorismus' kriminalisiert und diente als Rechtfertigung für meine Verhaftung. Aber ich habe im Gefängnis und vor Gericht Folgendes betont: ,Wir führen den Kampf unseres Volkes für Freiheit. Deshalb halten wir den Kopf hoch. Wir werden unseren Kampf weiterführen.'“
Deutschland unterstützt das repressive Erdoğan-Regime
Bilen sieht zwei Hauptgründe für die Unterdrückung von Kurd:innen in Deutschland: „Erstens setzt der deutsche Staat die Unterdrückungs- und Verfolgungspolitik des türkischen Staates gegenüber den Kurdinnen und Kurden fort. Das habe ich sowohl in der Vergangenheit als auch während der Verhaftung und des Gerichtsprozesses erlebt. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Während ich in Haft war, hatte der deutsche Generalbundesanwalt Peter Frank ein Treffen mit Erdoğan. Dieses Treffen, das nicht mit einem Amtskollegen, sondern mit dem Präsidenten eines Landes stattfand, offenbarte die Partnerschaft des deutschen Staates mit dem türkischen Staat in der rechtlichen Dimension. Der Bundesanwalt hat sich zum Inhalt dieses Treffens mit keinem Wort geäußert.
Der zweite Punkt sind die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zur Türkei. Der Hauptgrund für diese Entscheidungen hängt jedoch mit ihrer eigenen internen Dynamik zusammen. Revolutionäre, demokratische und ökologische Bewegungen wachsen und organisieren sich in Deutschland. Diese Strukturen haben seit langem enge Beziehungen zum Kampf des kurdischen Volkes. Die aktiven Beziehungen dieser Strukturen zu uns sind für Deutschland äußerst beängstigend. Denn das Paradigma des Demokratischen Konföderalismus bietet die beste Option gegen den Kapitalismus."
„Alle sehen die Gesetzlosigkeit“
Bilen sagt, dass die Justiz in Deutschland als Instrument für die politische Verfolgung kurdischer Aktivist:innen benutzt wird. Das sei allgemein bekannt und von ihm auch vor Gericht angeprangert worden. „Natürlich sind wir nicht die Einzigen, die das sehen. Nach diesem Treffen haben auch viele Menschenrechtsverteidiger in Deutschland stark reagiert. Wir Kurdinnen und Kurden wissen, dass dieses Treffen rein politisch war und wir auf der Tagesordnung standen. Es betraf Erdoğans Forderung, den Druck auf die Kurden in Deutschland fortzusetzen und von der deutschen Justiz unterstützen zu lassen. Das habe ich auch vor Gericht angesprochen. Ich habe gesagt, dass die Justiz nicht unparteiisch ist und erklärt werden müsse, warum sich der Bundesstaatsanwalt mit dem Präsidenten eines Landes treffe. Ich sagte, dass ich im Einklang mit den grundlegenden Forderungen des türkischen Staates verhaftet worden bin und dass der deutsche Staat zum Partner im Krieg gegen die Kurden geworden ist. Der Staatsanwalt antwortete darauf: ,Dieses Treffen hat nichts mit Ihrem Verfahren zu tun. Sie haben kein Recht, eine solche Frage zu stellen.' Zu meiner Verteidigung erklärte ich, dass meine Verhaftung auf politischen Entscheidungen beruhte und das Gericht ein Theater war.“
Das Gericht habe ihm auch die Möglichkeit geboten, die Wahrheit zu sagen, betont Mirza Bilen: „Sie können uns als Terroristen bezeichnen, so viel sie wollen. Aber als Angehörige des unterdrückten kurdischen Volkes werden wir ihnen diese Wahrheiten immer wieder ins Gesicht schleudern. Wir werden uns nicht beugen, und diese Tatsache habe ich sowohl mündlich als auch schriftlich geäußert und zu Protokoll gegeben.“
„Das Gericht entscheidet nach dem Staat, nicht nach dem Gesetz“
Bilen verweist auf Gerichtsurteile in anderen EU-Ländern, dass die PKK keine terroristische Organisation, sondern eine Partei in einem bewaffneten Konflikt ist. Deutschland müsse diese Urteile berücksichtigen: „Belgische und luxemburgische Gerichte haben über die PKK entschieden. Auch Deutschland ist ein EU-Mitgliedstaat. Es muss diese Entscheidungen überprüfen. Deutschland hält jedoch an seiner Haltung gegen die Kurdinnen und Kurden fest, und das zeigt, dass die Verurteilung kurdischer Aktivisten politische Entscheidungen sind. Das Gericht handelt parallel zur staatlichen Politik."
„Den Gerichten ist die Unterdrückung bekannt“
In allen Prozessen gegen politisch aktive Kurd:innen in Deutschland seien sehr umfangreiche Verteidigungen vorgebracht worden, trotzdem habe sich nichts an der Strafpolitik geändert, sagt Mirza Bilen: „Sowohl in meinem Prozess als auch in den Prozessen unserer anderen verhafteten Freunde wurden ,Experten' zur kurdischen Frage hinzugezogen. In meiner ersten Anhörung legte ein Gutachter die Sachlage dar. Er präsentierte dem Gericht die Unterdrückung, die Massaker und die Assimilierungspolitik gegen die Kurdinnen und Kurden seit dem Komitee für Einheit und Fortschritt (Ittihad ve Terraki) vor der Gründung des türkischen Nationalstaates bis heute. Er stellte vor Gericht dar, wie der Friedensprozess vom türkischen Staat beendet und kurdische Städte im Widerstand für Selbstverwaltung niedergebrannt wurden. Er schilderte die Repression gegen die HDP und die Invasionen und Massaker in Rojava. Der vorsitzende Richter selbst sagte: ,Wir wissen, dass der türkische Staat die Kurden seit hundert Jahren unterdrückt und dass die Grundrechte des kurdischen Volkes nicht anerkannt werden. Aber wir können den Kampf der PKK nicht in demselben Licht sehen. Es handelt sich um einen bewaffneten Kampf und unserer Meinung nach um einen terroristischen Kampf.' Sie sind sich auch des Widerspruchs bewusst, der hier besteht. Einerseits heißt es, dass die Kurden im Recht sind, und auf der anderen Seite, dass die Kurden nicht kämpfen sollen."
Eingeschleuste Spitzel
In den 129b-Prozessen gegen kurdische Aktivist:innen treten regelmäßig mit der PKK befasste Mitarbeiter von BKA und LKA auf. Mirza Bilen sagt, dass die meisten Informationen in seinem Verfahren von angeworbenen Spitzeln des Verfassungsschutzes stammen: „Es gibt viele Texte zur kurdischen Frage und zur PKK als Selbstverteidigung des kurdischen Volkes. Ich habe vor Gericht auf vierzig Seiten dargelegt, wie ich als kurdisches Individuum seit meiner Kindheit von der Unterdrückung des türkischen Staates betroffen war, wie wir vertrieben wurden, welche Diskriminierung ich in einer türkischen Großstadt erlebt habe und was Assimilierung bedeutet. Ich habe deutlich gemacht, dass ich meine Existenz, meine Sprache und meine Identität nur schützen kann, wenn ich dafür kämpfe. Viele Informationen in meiner Akte basieren leider auf Aussagen von Personen, die als Spitzel angeworben und bei uns eingeschleust wurden. Die Polizei hat vor Gericht ausgesagt, dass sie mich über solche Personen observiert hat. Diese Informationen werden auch an die Türkei weitergegeben. Der deutsche und der türkische Staat machen im Grunde genommen dasselbe.“
Die Anwerbung von Spitzeln ziele gleichzeitig darauf ab, den Zusammenhalt und das Vertrauen innerhalb der kurdischen Community zu zerstören, betont Bilen. Als Druckmittel nutze der deutsche Staat vor allem das Aufenthaltsrecht.
Solidarität gegen Isolation
Der §129b wird in Deutschland dafür benutzt, kurdische Aktivist:innen, die für Freiheit kämpfen, einzuschüchtern und handlungsunfähig zu machen, sagt Mirza Bilen. Deshalb sei Solidarität so wichtig: „Als ich verhaftet wurde, organisierten unsere Leute eine Demonstration in der Region, in der ich mich befand. Das war eine wichtige Solidarität, die auch während des Gerichtsprozesses immer wieder bekräftigt wurde und mir viel Kraft gegeben hat. Das Ziel des deutschen Staates ist es, diejenigen, die kämpfen, zu isolieren und zur Passivität zu zwingen. Wir haben weitere Freunde, die derzeit im Gefängnis sitzen. Alle sollten mit ihnen solidarisch sein."
Der wichtigste Indikator für Solidarität sind nach Bilens Erfahrung Briefe: „Ich habe im Gefängnis viele Briefe erhalten, und diese Briefe - wer im Gefängnis war, weiß das sehr gut - sind sehr, sehr wertvoll. Ich möchte mich bei allen Menschen bedanken, die mir geschrieben haben. Natürlich habe ich auch selbst Briefe an meine Freunde im Gefängnis geschickt. Diese Briefe wurden mir später als Argument gegen eine Strafminderung vorgehalten, als ob sie strafbar wären. Das Ziel ist es, Solidarität zu verhindern. Mich hat es glücklich gemacht, wenn ich in den Briefen an mich gelesen habe, dass der Kampf draußen ungebrochen weitergeht."
Zuletzt sagt Mirza Bilen: „Ich bin frei, aber wir haben noch Freunde, die in Deutschland inhaftiert sind. Unser Volk sollte sie nicht allein lassen. Der Druck auf alle politischen Gefangenen steht in direktem Zusammenhang mit der Isolation von Abdullah Öcalan. Es ist klar, dass nicht nur dieser Druck, sondern auch der Krieg in Kurdistan parallel zur Isolation geführt wird. Wir müssen die Isolation durchbrechen und weiterkämpfen. Unser Kampf ist ein gerechter Kampf und deshalb ist diese Art von Druck und Einschüchterung sinnlos.“