Nach Angaben des türkischen Innenministeriums sind zwischen dem 4. und dem 9. Februar 528 Personen in 38 Provinzen bei Protesten im Zusammenhang mit der Istanbuler Boğaziçi-Universität festgenommen worden. 208 Personen wurden nur gegen Meldeauflagen wieder freigelassen. Die HDP-Abgeordnete Filiz Kerestecioğlu sagte in einer Rede im Parlament, dass bisher 600 Menschen festgenommen wurden. Die Zahlen steigen jedoch täglich weiter an. Von den Festgenommenen wurden elf Personen verhaftet, 25 weitere wurden in den Hausarrest geschickt.
Vermummungsverbot und Maskenpflicht
Den festgenommenen Aktivistinnen und Aktivisten wird zumeist Verstoß gegen das Versammlungsgesetz und Widerstand gegen Sicherheitskräfte vorgeworfen. Weitere Vorwürfe sind „Terrorpropaganda“ und Vermummung bei Demonstrationen. Vermummung gilt in der Türkei seit 2015 als Propaganda für eine terroristische Vereinigung. Gleichzeitig besteht im ganzen Land Maskenpflicht wegen der Corona-Pandemie.
Wie Rechtsanwält*innen mitteilen, werden die bisher ausgesprochenen Haftbefehle gegen die Studierenden nicht weiter begründet. Anstatt auf eine konkrete Straftat der Betroffenen einzugehen, werden in der Begründung der Haftbefehle nur allgemeine Formulierungen wie „Beschädigung öffentlichen Eigentums, Verstoß gegen das Versammlungsgesetz, Terrorpropaganda“ aufgeführt.
Hinsichtlich der angeordneten Meldeauflagen und des Hausarrests gibt es ein Urteil des türkischen Verfassungsgerichts im Fall von Mustafa Balbay. Der Gerichtshof stellt in dem Urteil fest, dass derartige Maßnahmen nur getroffen werden können, wenn handfeste Beweise gegen die Beschuldigten vorliegen. Trotzdem sind im Zuge der Proteste gegen die Ernennung eines AKP-Politikers zum Rektor der renommierten Boğaziçi-Universität bisher 25 Personen in den gerichtlich angeordneten Hausarrest geschickt worden.
Trotz Corona: Festgenommene eng zusammengepfercht
Einer der Betroffenen ist Baran Doğan. Er wurde am 2. Februar bei einer Protestaktion in Kadiköy festgenommen und ist seitdem im Hausarrest. Doğan unterrichtet Dramaturgie und ist der Meinung, dass die Zwangsverwalterpolitik nicht nur die Studierenden betrifft. Deshalb hat er sich an dem Protest beteiligt. Er sagt, dass sich die Kundgebung in Kadiköy gerade auflöste, als die Polizei ohne Vorwarnung plötzlich angegriffen hat. Dutzende Menschen wurden festgenommen und stundenlang in Bussen eingepfercht. „Von 18 Uhr bis sechs Uhr morgens wurden wir in ungelüfteten Fahrzeugen festgehalten. In einem der Fahrzeuge war eine Covid-positive Person. Trotzdem mussten wir ungefähr 15 Stunden in den Bussen bleiben. Morgens um neun Uhr wurden wir mit 15 Männern und sieben Frauen in die Gefangenensammelstelle in Gayrettepe gebracht. Eine der Sammelzellen war mit Kot verschmutzt. Wir waren mit 15 Personen in zwei Zellen eingesperrt, die für drei bis vier Leute ausgereicht hätten. Wegen dem Umgang mit uns lehnten wir das Essen und Trinken ab, das uns gegeben wurde. Das Essen, das die Anwälte uns brachten, wurde uns nicht ausgehändigt.“
Zufällig vom Hausarrest erfahren
Dass gegen ihn Hausarrest angeordnet wurde, erfuhr Baran Doğan erst beim Verlassen des Justizgebäudes von dem TIP-Abgeordneten Erkan Baş. Eine richterliche Anhörung erfolgte nur im Fall von zehn Personen, für die die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl beantragt hatte. „Als wir entlassen wurden, wurde uns nicht einmal die Anordnung zum Hausarrest mitgeteilt. Ich dachte zuerst, dass der Abgeordnete einen Witz macht. Wir wussten nichts von der Entscheidung“, erzählt Doğan und führt zu seiner momentanen Situation aus:
„Hausarrest ist wie Haft. Ich habe zwar Kommunikationsmöglichkeiten, kann telefonieren und das Internet benutzen, aber ansonsten hat der Staat alle Verpflichtungen auf uns abgewälzt und uns arbeitslos gemacht. Ich wohne zur Miete und muss Rechnungen bezahlen, aber ich kann nicht mehr arbeiten und Geld verdienen. Zurzeit wird versucht, den Hausarrest zum Normalzustand zu machen. Wir stehen unter Kontrolle und sind aus dem Leben gerissen worden. Das ist nicht anders als Haft.“