Zahlreiche Menschen haben am Sonntag an die Opfer des Pogroms von Gazi erinnert und die Bestrafung der Täter gefordert. 28 Jahre nach dem vom 12. bis 15. März 1995 im Istanbuler Stadtbezirk Sultangazi und dem gegenüberliegenden Ümraniye verübten Massaker an der alevitischen Gemeinschaft genießen die Verantwortlichen des Verbrechens noch immer Straffreiheit. „Die Schützen und Drahtzieher befinden sich in Freiheit und in der schützenden Obhut der Straflosigkeit, die ihnen der türkische Staat gewährt. Dieser Zustand muss enden. Dafür werden wir kämpfen“, hieß es in einer Erklärung der „Plattform 12. März“, die zusammen mit alevitischen Interessenverbänden zu dem Gedenkmarsch eingeladen hatte.
Die Demonstration begann vor dem alevitischen Cemhaus von Gazi und endete am örtlichen Friedhof, wo die meisten Opfer des Pogroms begraben liegen. Die Route führte wie in jedem Jahr vorbei an jenen Stellen des Viertels, wo sich das Massaker ereignete. An jedem Ort wurde eine Pause eingelegt, die Anwesenden legten rote Nelken ab. Unter den Teilnehmenden des Gedenkmarschs waren auch Mitglieder und Verbände der Demokratischen Partei der Völker (HDP), der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP) und der Partei der Arbeit (EMEP).
Der Mörder ist der Staat
Viele Menschen führten Bilder der Ermordeten mit und hielten Plakate hoch, auf denen Aufschriften wie „Mörder-Staat“ zu lesen waren. Ein Sprecher der Plattform rief die Namen der Getöteten auf, die Menschenmenge erwiderte jedes Mal: „Hier!“ Besonders laut war es im Block der Föderation der sozialistischen Jugendverbände (SGDF) und der Kaldıraç-Bewegung. Auch wurden die Namen der Provinzen gerufen, die bei den schweren Erdbeben vom 6. Februar getroffen wurden. Aus der Demonstration war nach jeder Nennung „Regierung, tritt zurück“ zu hören.
Begleitet wurde das Gedenken von einem großen Aufgebot der Polizei, die von Beginn an auf Konflikt setzte. Mehrmals griffen Beamte in die Demonstration ein, um angeblich verbotene Plakate und Fahnen einzuziehen. Die Beteiligten ließen sich nicht provozieren. Auf Höhe des Hüseyin-Altın-Parks wurde eine Kundgebung abgehalten. Erkan Şimşek, der bei dem Massaker seine Schwester Dilek Şimşek verlor, erinnerte an die politische Atmosphäre der Neunziger und die Umstände des Massakers von Gazi, bei dem mindestens 22 Menschen von Ultranationalisten und Polizisten ermordet und hunderte weitere verletzt wurden.
„Der Staatsterror gehört in Gazi seit jeher zum Alltag“
Alles begann damit, dass „unbekannte Täter” aus nationalistischen Kreisen in der Nacht zum 12. März ein Taxi in Gazi entführten und dem Fahrer die Kehle durchschnitten. Im Vorbeifahren schossen sie mit automatischen Waffen wahllos in alevitische Cafés, Kulturhäuser und Konditoreien. Ein Mensch starb, zahllose weitere wurden verletzt. Anschließend wurde das Fahrzeug in Brand gesetzt.
Daraufhin kam es zu Protesten vor einer Polizeiwache, die 200 Meter vom Tatort entfernt lag. Die friedliche Demonstration eskalierte, als ein Militärpanzer in die Menschenmenge fuhr. Die „Sicherheitskräfte” ermordeten in diesen Tagen 20 Demonstrierende – fünf von ihnen in Ümraniye – durch gezielte Schüsse und verwundeten mindestens 300 weitere. Das Pogrom war von systematischen Massenverhaftungen, Hausdurchsuchungen und Polizeiübergriffen in mehreren Istanbuler Stadtteilen begleitet. Einige der Inhaftierten gelten wie weitere tausende Menschen in der Türkei bis heute als „verschwunden”.
„Der Staatsterror gehört in Gazi seit jeher zum Alltag“, sagte Erkan Şimşek. Besonders in den 1990er Jahren sei die Politik der Unterdrückung eskaliert worden. „Der Staat versuchte, durch eine Vertiefung der alevitisch-sunnitischen Polarisierung der Gesellschaft die revolutionären Gruppen in Gazi zu zerschlagen und die demokratische Bevölkerung zu verschrecken. Wir hatten den Plan durchschaut und ließen uns nicht darauf ein.“
Täter und Verantwortliche geschützt
Bis heute sind nur zwei an dem Massaker beteiligte Polizisten verurteilt worden: Adem Albayrak erhielt bei einem Schauprozess dreieinhalb Jahre Haft für den Mord an vier Menschen; sein Kollege Mehmet Gündoğdu, der zwei Personen aus Gazi tötete, kam mit achtzehn Monaten „Strafe“ davon. „Doch die eigentlichen Verantwortlichen wurden bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen“, betonte Şimşek und nannte ihre Namen: Tansu Çiller, damalige Ministerpräsidentin der Türkei, die nicht nur als Verantwortliche für das Gazi-Massaker, sondern allgemein für die Pogromstimmung der 1990er Jahre gesehen wird; Nahit Menteşe, Innenminister der Çiller-Regierung; Hanefi Avcı, Chef des Direktorats des polizeilichen Nachrichtendienstes; Necdet Menzir, Polizeipräsident von Istanbul; Mehmet Ağar, Chef der Generaldirektion der Polizei; Hayri Kozakçıoğlu, Gouverneur von Istanbul sowie ihre Attentäter.
Im Anschluss an die Demonstration wurde der Toten auf dem Friedhof von Gazi gedacht.