Mit einem Gedenkmarsch durch das Istanbuler Stadtviertel Gazi ist am Samstag an die Opfer des Massakers von 1995 erinnert worden. Menschen aus der gesamten Metropole strömten auf die von den Familien der Opfer, der Plattform 12. März und alevitischen Interessenverbänden organisierte Demonstration, um der Toten zu gedenken und die Bestrafung der Täter einzufordern. Wie in jedem Jahr wurde die Veranstaltung auch dieses Mal von einem großen Polizeiaufgebot begleitet.
Der Gedenkmarsch startete vor dem alevitischen Cemhaus von Gazi. Die Polizei suchte direkt zu Beginn die Konfrontation mit den Teilnehmenden und versuchte die Demonstration wegen eines Transparents mit dem Konterfei des 68er-Revolutionärs Ibrahim Kaypakkaya zu unterbinden. Das Organisationskomitee ließ sich nicht auf die Drohungen ein und bestand auf das Mitführen des Bildes. Andere Bilder zeigten die Gesichter der 22 Toten von Gazi und Ümraniye.
Die Demonstration führte in Begleitung alevitischer Gesänge und Parolen, darunter „Der Mörder Staat wird Rechenschaft leisten“ und „Unsere Toten sind unvergessen“ bis zum Friedhof – vorbei an jenen Stellen Gazis, wo sich das Massaker im März 1995 ereignete. An jedem Ort wurde eine Pause eingelegt, die Anwesenden legten rote Nelken ab. Auf dem Friedhof angekommen stimmten einige Frauen alevitische Totenklagen an den Gräbern ihrer Angehörigen an. Es waren Momente, die gekennzeichnet waren von der Trauer des ersten Tages.
„27 Jahre sind vergangen seit dem Massaker, aber unser Schmerz und unsere Wut haben nicht nachgelassen“, sagte Kibar Poyraz, die 1995 ihre Schwester Zeynep verlor. Der Staat habe damals versucht, durch eine Vertiefung der „sunnitisch-alevitischen“ Polarisierung der Gesellschaft die revolutionäre Opposition mundtot zu machen. „Angriffe waren für die Bevölkerung von Gazi nicht neu. Denn Unterdrückung und Terror waren schon immer Teil des Lebens der Menschen hier. Wir hatten uns daran gewöhnt, aber sich an etwas zu gewöhnen bedeutete nicht, sich damit abzufinden. Wir waren wütend, ließen uns aber auf die provokative und konfliktschürende Praxis jener Mörder, die bereits Blut an ihren Händen hatten, nicht ein.“
Das Massaker
Das Massaker von Gazi fand vom 12. bis zum 15. März 1995 statt und endete als Pogrom gegen die alevitische Bevölkerung. Mindestens 22 Menschen wurden dabei von Ultranationalisten und Polizisten ermordet. Es richtete sich, wie schon das Massaker von Sivas (kurd. Sêwas) nur zwei Jahre zuvor, gegen Angehörige der alevitischen Gemeinschaft. Von „unbekannten Tätern” aus nationalistischen Kreisen wurde in der Nacht zum 12. März ein Taxi in Gazi entführt und dem Fahrer die Kehle durchgeschnitten. Kurz darauf schossen die Täter im Vorbeifahren mit automatischen Waffen wahllos in alevitische Cafés, Kulturhäuser und Konditoreien. Ein Mensch starb, zahllose weitere wurden verletzt. Anschließend wurde das Fahrzeug in Brand gesetzt.
Daraufhin kam es zu Protesten vor einer Polizeiwache, die 200 Meter vom Tatort entfernt lag. Die friedliche Demonstration eskalierte, als ein Militärpanzer in die Menschenmenge fuhr. Die „Sicherheitskräfte” ermordeten in diesen Tagen 20 Demonstrierende – fünf von ihnen im gegenüberliegenden Stadtbezirk Ümraniye – durch gezielte Schüsse und verwundeten mindestens 300 weitere. Das Pogrom war von systematischen Massenverhaftungen, Hausdurchsuchungen und Polizeiübergriffen in mehreren Istanbuler Stadtteilen begleitet. Einige der Inhaftierten gelten wie weitere tausende Menschen in der Türkei bis heute als „verschwunden”.
Täter und Verantwortliche geschützt
Bis heute sind nur zwei an dem Massaker beteiligte Polizisten verurteilt worden: Adem Albayrak erhielt bei einem Schauprozess dreieinhalb Jahre Haft für den Mord an vier Menschen; sein Kollege Mehmet Gündoğdu, der zwei Personen aus Gazi tötete, kam mit achtzehn Monaten „Strafe“ davon. „Die eigentlichen Verantwortlichen des Massakers wurden bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen“, sagte Kibar Poyraz und nannte ihre Namen. An erster Stelle stehe die ehemalige türkische Ministerpräsidentin Tansu Çiller, die nicht nur als Verantwortliche für das Massaker, sondern allgemein für die Pogromstimmung der 1990er Jahre gesehen wird. Es folgten die Namen des damaligen Innenministers Nahit Menteşe, des Ex-Chefs des Direktorats des polizeilichen Nachrichtendienstes Hanefi Avcı, des früheren Polizeipräsidenten Mehmet Ağar und des damaligen Gouverneurs von Istanbul Hayri Kozakçıoğlu. „Vergessen werden wir auch nicht die tatausführenden Auftragskiller. Unser Kampf geht weiter, bis unseren Toten Gerechtigkeit widerfährt.“