Tahir Köçer: Zur praktischen Bedeutung von Solidarität in finsteren Zeiten

Die Rote Hilfe e.V. hat zum Kampftag für die Freiheit aller politischen Gefangenen am 18. März eine Sonderzeitung veröffentlicht. Einer der Artikel beschreibt die Situation von Tahir Köçer, dem ehemaligen Vorsitzenden des kurdischen Dachverbands KON-MED.

Tag der politischen Gefangenen

Der 18. März ist international bekannt als der „Tag der politischen Gefangenen“. An diesem Tag soll an den Aufstand der Pariser Kommune im Jahr 1871 erinnert werden, aber auch an ihre Zerschlagung und die folgende Repression. 1923 erklärte die Internationale Rote Hilfe den 18. März zum „Internationalen Tag der Hilfe für die politischen Gefangenen“. Nach dem Faschismus gab es erst wieder 1996, auf Initiative linker Gruppen und der Roten Hilfe, einen Aktionstag für die Freiheit der politischen Gefangenen. Seitdem finden jedes Jahr Veranstaltungen und Aktionen statt.

Die Rote Hilfe e.V. veröffentlicht seit 1998 zum Kampftag für die Freiheit aller politischen Gefangenen eine Sonderzeitung, die im März sechs linken Tages-, Wochen- und Monatszeitungen beiliegt und außerdem bei Demonstrationen und Veranstaltungen verteilt wird. Die diesjährige Ausgabe enthält viele gute Berichte über Gefangene aus der linken, antifaschistischen, ökologischen und kurdischen Bewegung in Deutschland und anderen Ländern, einschließlich der Postadressen. Die Zeitung ist kostenlos und kann zum Weiterverteilen beim [email protected] bestellt werden.

Einer der Artikel beschreibt die Situation von Tahir Köçer, dem ehemaligen Ko-Vorsitzenden des kurdischen Dachverbands KON-MED. Den Beitrag der Rote Hilfe OG Nürnberg/Fürth/Erlangen gibt ANF in solidarischer Absprache mit der Redaktion der Sonderzeitung zum 18. März an dieser Stelle wieder:

Weil das Feuer der Solidarität auch die letzte Zelle erhellt …

In Nürnberg ist es mittlerweile wie in vielen Städten keine Seltenheit mehr, dass sich Linke regelmäßig mit Straf- und Untersuchungshaft konfrontiert sehen. In neun Jahren saßen sechs Genoss:innen, die wir betreuten, über ein Jahrzehnt Haft ab. Es gab unzählige Kundgebungen, Demos und Veranstaltungen. Es wurden Spenden gesammelt, Pressemitteilungen, Artikel und zigtausende Briefe und Postkarten geschrieben. Alles im Namen der Solidarität, alles um die Isolation der Gefangenen zu durchbrechen. Doch wozu die Mühen, wenn doch bald nur jemand anderes einfahren wird?

Über den Wert des Kampfes am Beispiel des Genossen Tahir Köçer

Tahir wurde am 22. Dezember 2022 in Nürnberg als vermeintlicher Kader der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhaftet. Er sei Nachfolger Mirza Bilens, der bereits am 7. Mai 2021 in Nürnberg verhaftet worden war. Beiden wurde vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München nach § 129a und § 129b StGB der Prozess gemacht. Mirza wurde im November 2022 zu drei Jahren Haft verurteilt. Einen Monat nach dem Urteil wurde Tahir in Nürnberg verhaftet. Seitdem sitzt er in der Münchner JVA Stadelheim in Untersuchungshaft.

Am 8. Januar 2024 wurde nun endlich sein Prozess eröffnet, und Tahir sieht zweimal die Woche solidarische Prozessbeobachter:innen und Genoss:innen im Gerichtssaal. Anstelle der mittlerweile zu gut bekannten Gesichter im Gefängnis kann er jetzt Menschen sehen, die regelmäßig Briefe schreiben oder den Weg ins Gericht auf sich nehmen. Kleine Zeichen der Solidarität wie Applaus oder erhobene Fäuste, manchmal wird sich auch nur per Lächeln verständigt. All das unter den wachsamen Augen der Vertreter:innen des „Rechtsstaates“, dem das überhaupt nicht gefällt. Wenig verwunderlich, dass dem Einhalt geboten werden soll. Am 5. Prozesstag wird sein Anwalt vom Vorsitzenden Richter gerügt, dass er Tahir keine Süßigkeiten zustecke solle – ein Polizeibeamter hätte es in der Pause gesehen.

Niemand erwartet einen Freispruch

Im Laufe der Prozesstage wird dies nicht die letzte Schikane sein, die öffentlich wird. Tahir kann im Gefängnis keine kurdischsprachigen Fernsehsendungen empfangen, nur türkische Regierungssender. Zeitschriften werden mal zugestellt, mal zurückgehalten. Briefe von ihm brauchen teilweise sechs Wochen zur Empfangsadresse. Auf einer fünfstündigen Verlegungsfahrt aus der JVA Nürnberg in die JVA Hannover gab es kein Trinken, kein Essen und keine Toilettenpausen, nur eine Plastiktüte. All das interessiert die Richter:innen nicht – erheblich ist nur, was das Verfahren – oder besser gesagt: die Verurteilung – vorantreibt.

Von den Prozessbeobachter:innen erwartet niemand einen Freispruch oder auch nur eine Einstellung. Genug gegenläufige Erfahrungen konnten hier schon gesammelt werden. Und dennoch: Tahir lächelt immer wieder in den Zuschauer:innenraum. Seine Briefe beginnen mit: „Liebe Rote Hilfe“ und enden mit der Aufforderung: „Grüßt mir alle und jeden“. Nirgends klagt er oder verschwendet eine Zeile über seine Haftbedingungen und das Unrecht, das ihm geschieht. Er erkundigt sich über die Freund:innen draußen, schickt gute Wünsche und fordert auf, sich keine Sorgen um ihn zu machen. Die erlittenen Schikanen, von denen man im Prozess erfährt, scheinen weit weg und unwirklich. Sie konnten ihn nicht brechen, ihm keine Reue oder Distanzierung entlocken.

Welche Tat könnte revolutionärer sein?

Wir fragen ihn, wie das Ganze durchzustehen sei. Seine Antwort: „Jedes Mal, wenn ich Post bekomme, erhalte ich viel Kraft, und es stärkt mich.“

Wozu also die Mühe, die Prozesse unserer gefangenen Genoss:innen zu besuchen oder ihnen zu schreiben? Deshalb. Damit sie im täglichen Kampf um ein würdiges Dasein und Menschlichkeit nicht den Mut verlieren. Um unsere gemeinsame Kraft, Freundschaft und Verbundenheit zu fühlen. Welche Tat könnte revolutionärer sein?