Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht sieht keine Gefahr einer massenhaften Verfolgung von Eziden im Norden des Iraks mehr. Das Gericht in Lüneburg lehnte deshalb am Dienstag die Asylanträge einer Ezidin und ihres Bruders ab. Eine Gruppenverfolgung von Eziden in Şengal (Sindschar) sei nicht mehr „hinreichend wahrscheinlich", nachdem die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) verdrängt worden sei, hieß es zur Begründung.
Die Ezidin Sozdar Avesta sieht die Region hingegen aus mehreren Gründen weiter in Gefahr. Sie ist Mitglied des Präsidialrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) und äußerte sich im kurdischen Sender Stêrk TV zu den aktuellen Entwicklungen in Kurdistan. In ihrem Beitrag verwies die kurdische Politikerin auf die türkische Militärinvasion in Südkurdistan: „Dieser Angriff gilt ganz Kurdistan. Der türkische Staat hat am 27. Mai eine groß angelegte Besatzungsoperation gestartet. Die Angriffe werden pausenlos fortgesetzt. Viele Gebiete sind von den südkurdischen Kräften dem türkischen Staat übergeben worden. Nur aufgrund des Widerstands der Guerilla hat die Türkei ihr Ziel bisher nicht erreicht. Ihr Ziel ist die Vernichtung aller freien, willensstarken und ehrenvollen Kurdinnen und Kurden.“
Der Angriff gelte nur vordergründig der PKK, erklärte Sozdar Avesta und erinnerte an das Massaker am ezidischen Volk in Şengal vor fünf Jahren. Als der IS in der Region einfiel, war nur eine kleine Gruppe von zwölf Guerillakämpfern vor Ort, die sich den mordenden Islamisten entgegenstellten. „Sie haben eine noch viel größere Tragödie verhindert“, sagte Avesta.
Während die gut ausgerüsteten Peschmerga-Kräfte die Flucht ergriffen und die Bevölkerung ihrem Schicksal überließen, rückten Guerillakämpfer*innen aus den Bergen und Einheiten der YPJ/YPG aus Rojava an und kämpften einen Fluchtkorridor frei, der Hunderttausenden Menschen das Leben rettete.
Nach dem IS: Bedrohung durch den türkischen Staat
„In den vergangenen fünf Jahren sind Şengal und Umgebung befreit worden, Tausende Menschen konnten zurückkehren. Sie haben ihre eigenen Institutionen aufgebaut. Aktuell ist Şengal jedoch erneut bedroht. Der türkische Staat hat die Region bereits etliche Male angegriffen. Jetzt will er die PKK zum Vorwand für weitere Angriffe nehmen. Als der IS angegriffen hat, waren die südkurdische Regionalregierung, die irakische Regierung und die Kräfte der internationalen Koalition nicht präsent. Alle haben die ezidische Gesellschaft allein gelassen. In Şengal besteht immer noch Gefahr. Das kurdische Volk muss sich dagegen vereinen. Der Ferman ist nicht vorbei, im Moment gilt ein weißer Ferman. Jeden Tag kommen junge Menschen auf dem Weg ins Ausland ums Leben. Eine Gesellschaft, die aus Migranten besteht, verliert jeden Tag einen Teil ihrer selbst. In diesem Jahr fällt den Menschen aus Şengal eine hohe Verantwortung zu.“
Am 3. August auf die Straße
Die KCK-Politikerin verwies in ihrem Beitrag auf eine neue Kampagne der kurdischen Frauenbewegung in Europa (TJK-E) unter dem Motto „Aufstehen für Veränderung und Freiheit“. „Diese Initiative ist sehr sinnvoll. Frauen müssen ständig auf den Beinen sein. Wenn der Kampf nicht kontinuierlich stattfindet, gibt es keine Ergebnisse.“ Aus diesem Grund sollten Frauen auch am 3. August, dem Jahrestag des Massakers von Şengal, massenhaft auf die Straße gehen, erklärte Sozdar Avesta:
„Der Angriff auf Şengal war vor allem auch ein Angriff auf Frauen. Ich appelliere daher an alle Frauen und besonders an die Ezidinnen: Wo auch immer ihr am 3. August seid, geht auf die Straßen und erhebt eure Stimmen gegen den Faschismus. Macht deutlich, was ihr von Staaten haltet, die andere Länder besetzen. Zeigt eure Unterstützung für Şengal. Wer der Meinung ist, dass die Bevölkerung von Şengal endlich einen eigenen Status erhalten sollte, muss sich dafür einsetzen.
Die europäische Union, der Europarat und alle Menschenrechtsorganisationen müssen sich stärker um die Befreiung der vom IS gefangengenommenen Menschen bemühen. Alle Ezidinnen und Eziden, die in Südkurdistan, in der Türkei und in Europa in Camps leben, rufe ich dazu auf, endlich nach Şengal zurückzukehren. Wie auch Rêber Apo sagt, muss ein freies und demokratisches Şengal aufgebaut werden. Als Befreiungsbewegung werden wir immer an eurer Seite sein.“