Dr. Kamal Sido ist Menschenrechtler, seit 1993 ehrenamtlich und seit 2006 hauptberuflich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) tätig. Im Gespräch mit ANF hat er sich über seine Reise im April durch Syrien geäußert. Selbst aus Afrin (auch Efrîn) stammend, begrüßt er das Ende der brutalen Assad-Diktatur, sieht aber auch die neuen Machthaber kritisch.
Kamal Sido, du hast im April eine vierwöchige Reise durch Syrien gemacht und dabei Angehörige und Vertreter:innen ethnischer und religiöser Minderheiten sowie das Gebiet der Drus:innen im Süden Syriens, Damaskus, das alawitische Gebiet im Westen, die ismailitische Minderheit in Salamiyya in Zentralsyrien sowie die Kurd:innen, Assyrer:innen, Aramäer:innen, Armenier:innen, Christ:innen und Ezid:innen in der DAANES besucht. Wohin bist du zuerst gereist?
Zuallererst bin ich nach Daraa, im Süden des Landes gefahren, in das Gebiet der Drusen. Dort bin ich einige Tage geblieben. Ich war zum ersten Mal im Drusengebiet, aber ich fühlte mich wie zu Hause. Sie sind genauso wie ich Gegner der Islamisten. Die Türen waren offen, die Herzen offen und die Leute hatten sofort Vertrauen.
Ich habe die wichtigen Drusenführer getroffen. Mich hat Sheikh Hikmat al-Hijri beeindruckt, er ist sehr, sehr charismatisch, und ich glaube, die Drusen sind gut beraten, sich hinter ihm zu versammeln. Er hat ein konkretes, reales Programm für Syrien, und zwar für ein demokratisches, laizistisches, dezentrales Syrien, in dem auch alle Menschen, auch Frauen, zu den gleichen Rechten kommen. Deswegen mein Appell an die deutsche Politik, diese Persönlichkeiten zu unterstützen und nicht radikale Islamisten wie den neuen Machthaber al-Scharaa.
Hattest du den Eindruck, dass die Drus:innen in der Lage sind, sich zu verteidigen, wenn sie angegriffen werden?
Als ich da war, war es noch ruhig. Aber dann Ende April gab es Angriffe auf das Stadtviertel der Drusen im Süden von Damaskus und die Islamisten in Damaskus versuchten auch Suweida anzugreifen, aber die israelische Armee hat viele ihrer Milizen ausgeschaltet. Schon damals war es klar, dass die Drusen in Israel ihre Geschwister in Syrien niemals im Stich lassen werden.
Wenn die 150.000 Drusen in Israel merken, dass die Drusen in Syrien angegriffen werden, werden sie zu Zehntausenden bewaffnet die Grenze überqueren. Das würde zu einem Chaos führen und dieses Chaos kann Israel sich nicht leisten. Das ist der eigentliche Grund, warum Israel aktiv wird. Das haben die Islamisten, der Islamist al-Jolani verstanden. Aber die Drusen in Syrien selbst, die können sich nicht verteidigen.
Du warst ja auch an der Küste in den alawitischen Gebieten?
Zunächst war ich einige Tage in Damaskus, dort habe ich unter anderem Gespräche mit den Alawiten geführt. Dann bin ich weiter nach Homs, von da aus nach Tartus, Latakia gereist und war bei Fateh Jamous zu Gast. Fateh war als Alawit fast 20 Jahre unter Assad im Gefängnis. Während er gegen das Assad-Regime kämpfte, waren viele der heutigen Machthaber treue Anhänger Assads.
Was hast du über die Situation der Alawit:innen erfahren?
Ich habe von Fateh Jamous vieles gehört, von seinen Angehörigen, die erschossen worden sind. Vor allem junge Leute, die auf der Straße unterwegs waren, wurden festgenommen und alle als ehemalige Soldaten erschossen. Daher habe ich auf den Straßen überwiegend alte Frauen, Frauen, Kinder, kaum junge Männer, gesehen, weil sie Angst hatten.
Die jungen Männer sind im Bürgerkrieg in Syrien als Armeeangehörige getötet worden oder wurden jetzt erschossen. Sie sind auf der Flucht oder im Gefängnis. Dieses Gebiet kam mir vor wie Afrin. Ich war nicht selbst in Afrin, aber genauso wurde darüber berichtet. Ein von einer fremden Macht besetztes Gebiet. Ich habe Angst in den Augen der Menschen, mit denen ich gesprochen habe, gesehen – schon in Damaskus, eine tödliche Angst.
Alle Häuser der Alawiten wurden durchsucht. Und niemand wusste, was passieren wird. Ich habe sehr große Armut gesehen.
Weißt du etwas über die Anzahl der Toten bei diesen Massakern? Und wer diese Massaker begangen hat?
An den Massakern waren alle syrisch-islamistischen Milizen beteiligt. Es wurde zum Dschihad gerufen. Ich habe später in Salamiyya von den Ismailiten erfahren, wie die sunnitischen Nachbarn, die Radikalen, in Lastwagen eingestiegen sind und dann unter „Allahu Akbar“-Rufen zur Küste gefahren sind. Alle Milizen, die dieses Regime unterstützen, sind beteiligt gewesen. Vielleicht war das sogar noch schlimmer als in Afrin. Alles wurde gestohlen und zerstört. Jeder Mensch auf der Straße war vogelfrei.
Ich habe mit Rami Abdulrahman [Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Anm. d. Red.] gesprochen. Er hat etwa 2.000 Tote dokumentiert. Zivilisten, die erschossen worden sind. Ich habe aber auch andere Zahlen gehört. 30.000 bis 60.000 müssen es sein. Niemand hat die genauen Zahlen. Das wird Jahrzehnte dauern, bis sich die Alawiten davon erholt haben. Das Verbrecherregime von Assad – die Assads waren faktisch Sunniten geworden – hat hinter den sunnitischen Predigern in Damaskus gebetet und nie vom Alawitentum gesprochen, nur vom Arabertum, vom Islam und so weiter. Und wegen dieser Verbrecher mussten die Alawiten jetzt leiden. Und leiden immer noch.
Sie waren nicht organisiert. Sie hatten keine Milizen. Assad hatte alle zerschlagen. Jede Opposition in der alawitischen Community wurde zerschlagen. Deswegen waren die Alawiten nach dem Sturz des Regimes einfach schutzlos.
Und du warst auch in Şêxmeqsûd in Aleppo, nicht wahr?
Zunächst stand Aleppo nicht auf dem Plan. Ich war erst bei den Ismailiten in Salamiyya. Zwei Tage habe ich dort verbracht. Sie haben mir erzählt, wie zehntausende Sunniten aus der Gegend zu der Küste gefahren sind und was sie alles angerichtet haben. Dann kam es zu dem Abkommen zwischen den SDF [QSD, Anm. der Red.] und der „Übergangsregierung“ und die Massaker wurden gestoppt.
Von Salamiyya aus bin ich nach Aleppo. Ich habe eine Stadt vorgefunden, die vollkommen verdreckt war. Überall schwarze Farben, also viele, viele Frauen mit Kopftuch. Und auf den Straßen Autos mit Lautsprechern, die die Leute aufforderten, sich an die Scharia-Regeln zu halten. Sie fahren durch die Straßen und zitieren aus dem Koran und erklären dann was islamisch sei und was nicht.
Ich habe viel Dreck, viel Chaos gesehen. In Şêxmeqsûd [unter der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES), Anm. d. Red.] ist es einigermaßen sauber, weil die Verwaltung dort funktioniert. Die Asayîş [Sicherheitskräfte der Selbstverwaltung, Anm. d. Red.] lassen die Islamisten nicht rein. Auf Basis des Abkommens gibt es jedoch gemeinsame Checkpoints.
Haben die Menschen Angst nach dem Abzug der YPG und YPJ?
Zuerst ja, aber später war die Angst nicht mehr so groß. Aber sie ist noch da, denn die Islamisten sind unberechenbar.
Ich habe erfahren, dass du ja auch in Afrin warst. Ich glaube, du bist ja auch selber aus Afrin oder?
Ja, ich bin in Afrin geboren. Nur nachts habe ich Leute besucht, um sie nicht zu gefährden. Am Tage war ich auf dem Lande, habe zum Beispiel Friedhöfe, die zerstört worden sind, fotografiert, alte Bäume dokumentiert, die gefällt worden sind. Alle Gräber mit kurdischer Schrift waren zerstört. Es gibt kein Grab in Afrin mit kurdischer Schrift, das nicht zerstört wurde.
In den Medien wurde berichtet, dass die Dschihadisten der SNA („Syrische Nationalarmee“) abgezogen sind, stimmt das? Wie ist die Situation jetzt in Afrin? Können die Menschen, die aus Afrin geflüchtet sind, zurückkehren?
Das ist die einzige Hoffnung. Die Siedler, ich nenne sie Siedler, diese bewaffneten Milizen, die sich in Afrin mit ihren Familien festgesetzt hatten, von denen sind viele jetzt weg. Sie sind zurück in ihre Orte, zum Beispiel nach Damaskus, Homs oder Hama. Sie sind in die Gebiete zurückgekehrt, die das Assad-Regime verlassen hat.
Und die Siedler lassen die Wohnungen und Häuser der Kurden unbewohnbar zurück. Sie nehmen alles mit, was sich mitnehmen lässt, sogar Türen und Fenster. Und die türkische Armee ist noch da. Man sieht türkische Flaggen. Neben dieser neusyrischen Islamisten-Flagge, ich nenne sie Islamisten-Flagge.
Dann steht dort auf Arabisch „Qef“, also Halt und auf Türkisch „Dur“. Das Interessante: Als ich in Afrin die administrative Grenze im Auto überquert habe, sagt die Deutsche Telekom mir: „Willkommen in der Türkei“. In Syrien funktioniert die Telekom nicht, wahrscheinlich wegen der Sanktionen, aber sie betrachtet Afrin offensichtlich als Teil der Türkei.
Also siehst du keine Möglichkeit, dass die Menschen, die aus Afrin geflohen sind, jetzt zurückkehren können?
Tatsächlich sind schon viel zurückgekehrt. Das ist die einzige gute Nachricht. Viele sind zurückgekehrt, viele Siedler sind weg. Aber ich glaube nicht, dass die Türkei ihre Basen dort verlassen wird. Die Türkei hat noch nie freiwillig ein Gebiet verlassen, das sie besetzt hat.
Warst du auch in den Gebieten der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien?
Ja, ich habe dort auch Mazlum Abdi getroffen. Wir haben uns über die Zukunft unterhalten. Es war ein sehr offenes, kritisches Gespräch.
Kannst du ein bisschen beschreiben, wie die Situation in Nord- und Ostsyrien sich unterscheidet von den Gebieten unter„Hayat Tahrir al-Sham“ (HTS)?
Also in den Gebieten, wo die HTS sind, ist alles unberechenbar, willkürlich. Von Checkpoint zu Checkpoint unterscheidet sich die Situation. Die Leute müssen ständig Angst haben. In den Gebieten der Selbstverwaltung gibt es eine Verwaltung, es gibt einheitliche Sicherheitskräfte. Alles funktioniert, die Frauen haben keine Angst auf die Straße zu gehen. Die Christen haben keine Angst. Aber in den Gebieten der HTS sieht man nur noch Angst, vor allem bei den Angehörigen der Minderheiten. Und alle redeten davon, die SDF müssten sie retten.
Ich habe ihnen gesagt: „Ihr müsst euch organisieren und dann zusammenhalten. Dann habt ihr eine sichere Zukunft. Aber die SDF alleine schaffen das nicht. Ihr müsst euch verbinden, euch organisieren. Dass die SDF Syrien spalten werden, ist gelogen.“
Du hast ja mit Rohilat Efrîn (YPJ-Generalkommandantur), Bedran Çiya Kurd (außenpolitischer Berater der DAANES) und Mazlum Abdi (QSD-Oberkommandierender) gesprochen. Wie schätzen sie denn die Lage der Selbstverwaltung ein?
Sie müssen sich arrangieren. Unter den Möglichkeiten, die sie haben, tun sie das Beste. Ich habe Vertrauen in diese Führung. Ich glaube, sie tun das Beste, um dieses Gebiet zu retten. Aber sie müssen eine realistische Politik betreiben, sich arrangieren. Und vor allem sich um die Menschen kümmern. Aber dieser Personenkult um Öcalan ist überholt. Man kann natürlich für die Freiheit von Öcalan eintreten, aber das schadet Öcalan selbst. Überall an jeder Kreuzung hängen seine Bilder ohne die Zustimmung der lokalen Bevölkerung. Das führt zu einer Antipathie gegenüber Öcalan.
Was denkt denn die normale sunnitisch-arabische Bevölkerung über die demokratische Selbstverwaltung?
Das ist unterschiedlich. Die Aufgeklärten, die Demokraten sagen, die SDF sind unsere Hoffnung. Wenn die weg sind, dann werden diese Islamisten das Land mit Gewalt islamisieren. Auf der anderen Seite gibt es die Konservativen, die Radikalen, denen sind die SDF ein Dorn im Auge. Die Minderheiten, Alawiten, Ismailiten, Drusen, die sehen in den SDF quasi eine große Hoffnung. Sie denken, sie SDF seien übermächtig. Ich habe ihnen gesagt, dass die SDF eigene Probleme haben und sie sich selbst organisieren müssten, um sie zu ergänzen.
Wir haben gehört, dass in den Gebieten, wo HTS aktiv ist, auch Fahnen des selbsternannten Islamischen Staates (IS) und Patches an den Uniformen zu sehen sind.
Das kann man überall sehen, sogar in Damaskus. Ich habe viele IS-Flaggen gesehen. Die Flagge der HTS hat einen weißen Hintergrund, aber die von Daesh ist schwarz. Eine habe ich bei einem Polizisten in der Nähe der Umayyaden-Moschee gesehen. Die Flagge mit der „Allahu Akbar“-Aufschrift kann man überall kaufen. Frauen sind unter HTS wertlos. Sie haben gar nichts zu sagen.
Glaubst du denn, dass die Syrer:innen jenseits der DAANES Organisationen und Parteien haben, die so ein islamistisches Syrien verhindern können?
Es gibt viele solche Organisationen, aber die sind klein, weil die NATO im Bürgerkrieg vor allem die radikalen Islamisten finanziert hat. Das ist der Grund, warum die fortschrittliche Opposition so klein und schwach ist. Sie haben kein Geld. Ich habe als Mitarbeiter der GfbV die NATO-Länder und die Bundesregierung ständig davor gewarnt, die Islamisten zu unterstützen.
Und Qatar ist mit viel Geld unterwegs, die Türkei und Qatar haben sehr lange Arme dort. Und der internationale sunnitische Islamismus ist sehr, sehr stark. Von Indonesien bis nach Istanbul unterstützen sie die Islamisten, zum Beispiel haben sie den Bau der Siedlungen in Afrin für die Islamisten unterstützt. Meine Hoffnung ist Israel, nicht die NATO-Länder, nicht wegen der Menschenrechte, sondern weil sie ein Eigeninteresse haben.
Es gibt zwei starke Akteure. Im Norden ist die Türkei, im Süden ist Israel. Diese Syrer, die jetzt an der Macht sind, diese Islamisten, die sind clever. Von wem sie geschult worden sind, weiß ich nicht. Aber sie gehen sehr strategisch vor. Die probieren etwas aus, und wenn es nicht funktioniert, treten sie einen Schritt zurück. Aber am nächsten Tag versuchen sie es noch einmal. Sie wollen Syrien islamisieren. Wenn man wissen will, wohin das führt, muss man nur Idlib besuchen.
Was denkst du wie viele Syrer:innen unterstüzen al-Jolani?
Schwer zu sagen, aber es gibt einen harten Kern, der 100 Prozent hinter al-Jolani steht. Die, die eine syrisch-islamische Republik wollen. Vielleicht 20 Prozent. Aber sie sind sehr, sehr aggressiv. Das Problem ist, dass sie die religiöse Karte ausspielen. Und wenn man die Religion in konservativen, islamischen Ländern wie Syrien oder vielen anderen Ländern benutzt, dann gewinnt man.
Selbst meine Mutter, die nicht mehr lebt, würde al-Scharaa unterstützen, wenn er sagt, Frauen haben in den Behörden nichts zu suchen. Meine Mama hätte al-Scharaa unterstützt. Weil Frauen in den Augen dieser Menschen nichts in der Verwaltung zu suchen haben. Sie müssen ein Kopftuch tragen, und nicht „nackt“ herumlaufen. Nackt bedeutet für sie ohne Kopftuch. Diese Leute benutzen die Religion genauso wie Khomeini. Genauso wie man im Mittelalter in Europa die Religion benutzt hat. Und al-Scharaa benutzt die Religion.
Meine allerletzte Frage: Was sollte die Haltung der Bundesregierung gegenüber dieser Übergangsregierung sein?
Ich erwarte überhaupt nichts. Ich habe von Baerbock gar nichts erwartet. Und ich erwarte nichts von der neuen Regierung. Sie werden das machen, was die Türkei von ihnen will. Deswegen setze ich meine Hoffnung eher auf Israel, vielleicht die USA, Trump. Trump kann man vielleicht zu etwas bewegen. Aber die Bundesregierung, das Auswärtige Amt, nein. Sie werden gar nichts machen, sondern nur das, was die Türkei will. Und zwar freiwillig.
Trump ist nach Saudi-Arabien gegangen und hat al-Scharaa anerkannt, und hat von dort Milliarden in die USA mitgebracht. Aber Baerbock hat ihn ohne Gegenleistung anerkannt. Also ohne einen Cent für die deutsche Wirtschaft zu bekommen. Er hat ihr einen Handschlag verweigert, und dennoch. Und die neue Regierung, die SPD und CDU, werden auch nichts machen. Ich hoffe es zwar, aber ich glaube das nicht. Ich habe die Hoffnung verloren. Das Auswärtige Amt müsste aufgelöst und neu besetzt werden.
Ich danke dir, Kamal, für dieses Interview.