Sinan Önal: Ein Kampf ums Überleben für Menschen in der Türkei

Sinan Önal, einer der beiden Ko-Sprecher der HDP Deutschland, äußert sich im ANF-Interview zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni in der Türkei.

Sinan Önal ist Ko-Sprecher der HDP in Deutschland. Wir haben mit ihm über den Ablauf der Wahlen in Deutschland, die Perspektiven in der Türkei und die Möglichkeiten und Defizite in Deutschland bei der Unterstützung des Kampfes um Demokratie in der Türkei gesprochen.

Herr Önal, könnten Sie sich kurz für unsere Leserinnen und Leser vorstellen?

Mein Name ist Sinan Önal, ich bin einer der beiden Ko-Sprecher der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Deutschland. Ich bin Politikwissenschaftler und ich war diplomatischer und politischer Berater des mittlerweile inhaftierten ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş. Bevor ich nach Deutschland gekommen bin, war ich Vertreter unserer Partei in Washington D.C. Ich beteilige mich seit 2007 an der demokratischen Politik. Damals hatte die kurdische linke Bewegung es zum ersten Mal seit langer Zeit geschafft, wieder im Parlament vertreten zu sein. Jetzt vertrete ich meine Partei in Bezug auf die deutsche und die türkische Politik in Berlin.

Vorgestern war der letzte Tag der Wahlen für die Türkei im Ausland, wie sind Ihre Beobachtungen und Bewertungen zum Ablauf der Wahlen in Deutschland?

 Ja, die Stimmabgabe in Deutschland endete vorgestern Abend. Sie dauerte zwölf Tage, zwischen dem 7. und dem 19. Juni. In diesen zwölf Tagen haben wir unser Bestes getan, um die 1.450.000 Wahlberechtigten in Deutschland zu mobilisieren und sie an die 13 Wahlstandorte zu schicken. Diese Arbeit, an der sich Hunderte Aktivistinnen und Aktivisten der HDP beteiligt haben, war insbesondere aufgrund der kurzen Zeitspanne nicht einfach. Die Wahlbeteiligung war nicht schlecht. Zwischen 49 und 50 Prozent der Wahlberechtigten haben ihre Stimme abgegeben. Wir hoffen und erwarten, dass 25 bis 30 Prozent HDP gewählt haben. Dabei handelt es sich nicht nur um HDP-Anhänger, denn aufgrund des chaotischen Transitionsprozesses in der Türkei haben Tausende Menschen die HDP gewählt, damit unsere Partei über die Zehn-Prozent-Hürde kommt, die AKP-Regierung ihre absolute Mehrheit im Parlament verliert und die Wahlen in eine zweite Runde gehen müssen.

Woher kommen diese Neuwähler, von denen Sie gesprochen haben?

Ein großer Anteil kommt von der CHP, sogar vom extrem konservativen Teil der CHP, die ich ohne Zögern als Kemalisten bezeichnen würde. Aber auch viele Mitglieder der AKP, die zwar auf eine Art konservativ sind, denken, dass die Erdoğan-Regierung so schnell wie möglich ausgetauscht werden sollte, um Frieden, Demokratie und Gleichheit herbeizuführen. Und natürlich ist auch die ökonomische Situation Tag zu Tag schlechter. Das sind alles Faktoren, welche die Menschen dazu bringen, uns zu wählen. Gerade in Deutschland ist es sehr klar, dass wir die Zehn-Prozent-Hürde überschreiten, und ich hoffe, dass es genauso in der Türkei sein wird.

Hat es hier Wahlbetrug gegeben?

Wir hatten in allen Wahllokalen Beobachter, die die Wahlurnen und den Wahlprozess kontrolliert haben. Sie waren den ganzen Tag im Einsatz und standen in engem Kontakt zu den offiziellen Vertretern der Konsulate und den Beobachtern der anderen Parteien. Natürlich wurde auch hier mit verschiedenen Methoden versucht, die Wahlberechtigten zu manipulieren. Es kam zum Beispiel zu Bestechungsversuchen vor den Konsulaten. Es waren so schmutzige Spiele, dass teilweise ihre eigenen Wähler davon abgestoßen waren. Außerdem wurde versucht, die Meinung der Wähler zu ändern, sogar in den Wahlkabinen. Dabei wurden quasi gewalttätige Methoden eingesetzt, Drohungen eingeschlossen. Trotzdem hatten wir hier einen relativ friedlichen Wahlvorgang. Wir haben jedoch große Sorgen, was am 24. Juni in der Türkei und insbesondere in den kurdischen Gebieten passieren wird. Dort wurden der Ausnahmezustand und Sicherheitsbedenken vorgeschoben, um die Wahllokale von mehr als 300.000 Wahlberechtigten in den kurdischen Gebieten zu verlegen. Die Wahllokale sind teilweise bis zu 40 Kilometer von den Dörfern entfernt. Und alle Möglichkeiten des Betrugs sind offen. Die OECD hat ja ebenfalls bereits Vorbehalte bezüglich der Wahlen dargelegt. Der Europarat, das Europaparlament, die UN, die Menschenrechtskommission sprachen ihre große Sorge bezüglich der Fairness und der Transparenz der Wahlen aus. Deshalb versuchen wir Beobachterdelegationen aus Deutschland und ganz Europa zu mobilisieren. Alle europäischen Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, die Wahlen zu beobachten und sich in den den Wahllokalen aufzuhalten. Auf diese Weise wollen wir die Regierung und ihre paramilitärischen Banden entmutigen, die Wahlen und damit den Willen des Volkes zu manipulieren.

Wie viele Menschen aus Deutschland nehmen an der Wahlbeobachtung teil?

Wir haben sehr viele Anfragen aus der Zivilgesellschaft und organisieren gerade die Reisen in die Türkei. Unglücklicherweise zögern insbesondere die Politikerinnen und Politiker in Deutschland, in die Türkei zu reisen. Sie sind keine Journalisten oder Aktivisten, die festgenommen werden können, sie sind offizielle Politiker, Mitglieder der Landtage oder des Bundestages. Sie haben das Recht zu fahren und die Wahlen zu beobachten. Wir wissen, Deutschland und die Türkei haben engste Beziehungen, noch mehr als andere europäische Länder. Deshalb ist es ihre Verantwortung und ihre Pflicht, dorthin zu gehen und die Wahlen zu beobachten. Es ist noch nicht zu spät. Alle Wahlbeobachter sollten spätestens am 23. Juni in den kurdischen Gebieten sein. Wir werden sie dort willkommen heißen, sie werden in Hotels untergebracht, dann die Wahlen beobachten und am Montag zurückkommen.

Haben sie Angst oder woran liegt diese Zurückhaltung?

Der gescheiterte sogenannte Putsch und die darauf folgenden Ereignisse haben viel in der Türkei verändert. Die Festnahmen von Journalisten wie Deniz Yücel und zivilgesellschaftlichen Aktivisten haben ein großes Trauma geschaffen, insbesondere bei Politikerinnen und Politikern, denn der damalige Außenminister konnte mit dem Problem nicht besonders professionell umgehen. So entstand ein politisches Trauma in den Köpfen der Menschen. Deswegen zögern die Menschen, in dieses AKP-Land zu reisen. Das ist jedoch weder ein politisch richtiges, noch ein solidarisches Verhalten gegenüber den Völkern der Türkei, die in dieser Diktatur ums Überleben kämpfen.

Warum finden die Wahlen jetzt statt?

Es handelt sich um erzwungene Neuwahlen. Die Entscheidung für diese Wahlen ist gefallen, da Erdoğan den Moment gekommen sah, seine Diktatur nun endgültig auf eine stabile Grundlage zu stellen und ihr durch vorgezogene Neuwahlen einen Hauch von Legitimität zu verleihen. Wenn erst einmal die ökonomischen Schwierigkeiten aufbrechen und die Wirtschaftskrise beginnt, die Allianz mit den eurasischen Mächten sich wandelt, eine Abwendung vom Westen vollzogen wird und die Türkei ihre große Invasion in Nordsyrien und im Nordirak beginnt, sieht Erdoğan aus gutem Grund nicht die Bedingungen gegeben, um mit einer Wahl die gewünschte Macht über Staat und Gesellschaft zu erhalten. Vor all diesen bevorstehenden Ereignissen soll der Legitimierungsprozess der Diktatur abgeschlossen werden und ein hochzentralisiertes Regierungssystem politisch korrekt eingerichtet sein. Deshalb hat sich das Erdoğan-Regime für vorgezogene Neuwahlen entschieden. Es ist davon ausgegangen worden, dass die Opposition nicht in der Lage wäre, sich vorzubereiten und ihre Wählerschaft in dieser kurzen Zeit zu mobilisieren. Diese Erwartung ist jedoch enttäuscht worden, wie man heute sehen kann. Deshalb wird darüber nachgedacht, wie die Wahlen manipuliert oder sogar abgesagt oder verschoben werden können, wie für Provokationen im Wahlkampf gesorgt werden kann, um die Wählermeinung zu beeinflussen. Eine Methode dabei ist der nationalistische Krieg gegen die kurdische Aufstandsbewegung, die PKK, und die angedrohte Besatzung der Qendîl-Berge. Das jüngste Beispiel waren die Morde in Pirsûs. Die meisten Wähler sind jedoch an diese Art der Provokationen und Manipulation gewöhnt, deshalb funktioniert sie nicht und es wird nach neuen Methoden gesucht.

Welche Methoden sind das?

Wir leben in einer transparenten Welt, nicht im kalten Krieg, wo Geheimdienste versteckt agieren konnten. Alle Wähler können entweder vermuten oder sogar sehen, wie die AKP vorgeht. Es gab zum Beispiel eine „geheime Rede“ von Erdoğan, die in den sozialen Medien öffentlich gemacht wurde. Darin gab er die Anweisung, die Wahlurnen zu manipulieren, die Stimmauszählung zugunsten der AKP zu fälschen und alle denkbaren Methoden für einen Wahlsieg zu nutzen. Dass sich ein Staatspräsident hinstellt und den kleinen lokalen Akteuren Befehle erteilen kann, wie die Urnen zu manipulieren sind, ist ein deutliches Resümee der heutige Türkei aus dem Munde des obersten Verantwortlichen.

Ist denn Widerstand gegen so eine Betrugsmaschinerie auf der Ebene von Wahlen überhaupt möglich?

Obwohl die Regierung über den gesamten Staatsapparat verfügt, sind doch die 80 Millionen Menschen in der Türkei sehr erfahren, was Repression und Wahlbetrug betrifft. Die Erinnerung der Menschen daran ist frisch und ich bin schon ein wenig optimistisch, gerade wenn ich an den Gezi-Aufstand und die Kobanê-Revolte denke. Sie werden die Regierung nicht bestätigen. Sie werden ihre Wut auf das Regime in den Wahlen zum Ausdruck bringen. Das reflektiert sich vor allem auch in der Unterstützung für Demirtaş, der ja der inhaftierte Oppositionsführer ist und unter dem Verdacht des „PKK-Terrorismus“ steht. Dennoch unterstützen Millionen diesen inhaftierten politischen Führer, und auch Muharrem Ince, der Präsidentschaftskandidat der CHP findet breite Unterstützung. Die Fähigkeit der Opposition ist ein Beweis des Willens der Bevölkerung, einen Regierungswechsel herbeizuführen, die Türkei wieder in den EU-Beitrittsprozess, in Friedensgespräche und auf einen modernen demokratischen Weg zu bringen.