Von Abdullah Öcalan gibt es seit zweieinhalb Jahren keine Nachricht mehr. Der letzte Kontakt zu dem seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali im türkischen Marmarameer inhaftierten kurdischen Vordenker war ein unterbrochenes Telefongespräch im März 2021 mit seinem Bruder. Im Oktober wurde eine internationale Kampagne für seine Freilassung und eine politische Lösung der kurdischen Frage gestartet. Jean-Pierre Restellini, ein Schweizer Gerichtsmediziner, Arzt und Jurist, der Imrali mit einer Delegation des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter (CPT) 1999, 2010 und 2013 besuchte, wurde von Serkan Demirel für die Sendung Europäische Agenda auf Medya Haber TV zu seinen Kontakten mit Abdullah Öcalan gefragt. Restelli war mehr als 30 Jahre als Experte für das CPT tätig und zwischen 2009 und 2015 Präsident der Schweizerischen Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter.
Als Mitglied des CPT besuchten Sie Imrali unmittelbar nach der Verhaftung des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan im Jahr 1999 sowie 2010 und 2013. Können Sie uns erzählen, was bei diesen Besuchen geschah?
Ja, ich habe Abdullah Öcalan dreimal besucht, und bei den letzten beiden Besuchen habe ich auch seine Mitgefangenen gesehen. Der erste Besuch war 1999, also vor fast 25 Jahren. Daher sind meine Erinnerungen ein wenig verschwommen. Bei diesem ersten Besuch war Abdullah Öcalan sehr nervös, weil er gerade verhaftet worden war. Er wusste nicht, wer wir waren und verstand nicht, was wir vorhatten, ob wir ihm helfen wollten. Es dauerte ein paar Stunden, bis er sich entspannte und uns erzählte, was er erlebt hatte. Das war unser erster Besuch.
Bei unseren Besuchen im Jahr 2010 und danach war er viel entspannter. Die Haftbedingungen hatten sich etwas verbessert. Da ich mir als Arzt Sorgen um Öcalans Gesundheit machte, bat ich darum, ihn untersuchen zu dürfen. Alle wurden aufgefordert, den Raum zu verlassen, und wir wurden in einer rein medizinischen Umgebung mit Informationen allein gelassen, die der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen und die ich Ihnen auch jetzt nicht geben kann. Nach diesem zweiten Besuch, der für mich ein denkwürdiger Besuch war, blieben wir gute Freunde. Öcalan ist ein sehr sympathischer Mensch.
Unser dritter Besuch im Jahr 2013 fand im gleichen Rahmen statt, und wir freuten uns, einander wiederzusehen. Er nannte mich „mein französischer Arzt", weil er wusste, dass ich Französisch sprach. Ich mochte diesen Diskurs. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei diesen Treffen deutlich wurde, dass er kein Opfer von Gewalt war und von den Behörden nicht misshandelt wurde.
Die Bedingungen, unter denen er heute festgehalten wird, insbesondere die Isolation, sind jedoch sehr schwierig. Ich weiß nicht genau, wie seine derzeitige Situation aussieht, aber auf jeden Fall ist es für alle, die sich in Isolationshaft befinden, eine furchtbare Gewalt, wenn sie ohne jegliche Kommunikationsmöglichkeit auf ein kleines Quadrat aus Beton mit vier Metern Kantenlänge beschränkt sind und nur wenig Bewegungsfreiheit haben. Diese Bedingungen sind äußerst schwer zu ertragen.
Können Sie uns ein wenig über das Imrali-Gefängnis erzählen? Zum Beispiel die Struktur des Gefängnisses...
Wie Sie wissen, war Imrali früher eine Insel für die Unterbringung vieler Menschen. Bei unserem ersten Besuch sagten uns die türkischen Behörden, dass sie die gesamte Insel innerhalb weniger Wochen evakuieren mussten, um einen besonderen Gefangenen wie Öcalan unterzubringen. Es handelt sich um ein Gefängnis mit kreisenden U-Booten und Sicherheitsmaßnahmen auf höchstem Niveau. Ich habe Hunderte von Gefängnissen auf der ganzen Welt besucht und kann mich nicht erinnern, jemals ein so hohes Sicherheitsniveau in einem Gefängnis gesehen zu haben.
Wie war die Haltung von Abdullah Öcalan gegenüber der CPT-Delegation bei Ihren Besuchen?
Bei unserem ersten Besuch im Jahr 1999 war Öcalan ziemlich angespannt. Bei unseren späteren Treffen war er recht herzlich. Er war sogar bereit, über seine Erfahrungen zu sprechen und uns mitzuteilen, welche Hoffnungen er für sein Volk und sich selbst hegt. Nach mehr als 20 Jahren ist es traurig für mich zu wissen, dass sich seine Situation heute nicht sehr verändert hat.
Wurden in diesen Gesprächen auch politische Themen angesprochen?
Ich habe ihm erlaubt, in unseren Einzelgesprächen über Politik zu sprechen, aber Sie sollten wissen, dass alles, was wir sagten, von den allgegenwärtigen Kameras aufgezeichnet wurde. Ich konnte zum Beispiel nicht sagen „Es lebe Kurdistan", wenn ich mit ihm zusammen war, weil ich sonst Probleme bekommen hätte, wenn ich gegangen wäre. Die Türken hätten vielleicht nicht gewollt, dass ich wieder nach Imrali komme. In einer solchen Situation musste ich neutral bleiben. Deshalb mussten wir vorsichtig sein, was wir sagten und wie wir uns verhalten sollten.
Hat Abdullah Öcalan Ihnen von den Bedingungen auf Imrali erzählt?
Er hatte nicht das Bedürfnis, uns davon zu erzählen, denn wir haben uns bei unseren Besuchen ein Bild von seinen Bedingungen gemacht. Wir haben als Delegation das gesamte Gefängnissystem besucht und analysiert. Während unserer Besuche stand ich in engem Kontakt mit Öcalans Ärzten, da wir uns auch Sorgen um seine Gesundheit machten. Da er nicht mehr sehr jung ist, wollten wir sicherstellen, dass sein Gesundheitszustand und die Gesundheitsstruktur des Gefängnisses gut sind, und wir wollten sicherstellen, dass es möglich ist, ihn schnell an die Küste oder auf ein Militärschiff zu evakuieren, falls etwas schief geht oder er medizinische Hilfe benötigt.
Aber ich kann Ihnen sagen, dass die türkischen Behörden die Struktur des Gefängnisses so gebaut haben, dass Öcalan keinen Unfällen ausgesetzt ist. Sie konnten es sich nicht leisten, dass Öcalan ein Unfall zustößt. Das wäre für sie politisch schwerwiegend gewesen, weil die ganze Welt die Haftbedingungen von Öcalan genau beobachtet.
Abdullah Öcalan ist seit fast 25 Jahren auf Imrali inhaftiert. Es ist sicher nicht leicht, 25 Jahre unter den Bedingungen von Imrali zu verbringen, oder?
Natürlich ist es überhaupt nicht leicht. Es ist sehr schwierig, psychisch auf Imrali standzuhalten. Aber was Öcalan am Leben hält, ist die Tatsache, dass er weiß, dass sein Volk hinter ihm steht. Vielleicht ist das der Grund, warum er noch am Leben ist. Als wir ihn zum ersten Mal besuchten, waren wir besorgt, dass sein psychischer Zustand zusammenbrechen könnte, dass er an Selbstmord oder etwas anderes denken könnte. Das war jedoch nicht der Fall. Bei unseren weiteren Treffen konnten wir feststellen, dass er geistig sehr stark geblieben ist.
Trotz der 25-jährigen Gefangenschaft haben sich die Bedingungen auf Imrali nicht wesentlich verändert. Seit etwa 32 Monaten hat man keine Nachricht von Abdullah Öcalan erhalten. Das Recht, seine Anwälte und seine Familie zu sehen, wurde ihm vollständig entzogen. Was halten Sie von der derzeitigen Isolation von Abdullah Öcalan?
Es gibt verschiedene Gerüchte über Öcalans derzeitige Situation. Wenn er, wie Sie sagen, keinen Kontakt zu seiner Familie und seinen Anwälten hat, ist das eine sehr schwierige und schreckliche Situation. Daran gibt es keinen Zweifel. Aber ich kann nicht mit Gewissheit sprechen, es sei denn, ich stütze mich auf meine eigenen Beobachtungen.
Aber sind die Bedingungen der Isolation nicht eine Verletzung der Menschenrechte?
Das ist eine wichtige Debatte, die sie da ansprechen. Die Frage, ob jahrelange Einzelhaft eine Menschenrechtsverletzung darstellt oder nicht, war Gegenstand von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und anderer internationaler Gremien, wenn ich mich nicht irre - ich müsste nachsehen, um sicher zu sein.
Einige Gerichte haben entschieden, dass es unmenschlich und erniedrigend ist, eine Person jahrelang in Isolationshaft zu halten. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob es einen Präzedenzfall des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu diesem Thema gibt. Es lohnt sich jedoch, das zu prüfen, da die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf Öcalans Inhaftierung angewendet werden können.
Die einzige Organisation, die Imrali betreten darf, ist das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter (CPT). Zuletzt fand ein Besuch im September 2022 statt, aber ein Bericht über diesen Besuch wurde trotz aller Anfragen immer noch nicht veröffentlicht. Wie bewerten Sie diese Haltung des CPT?
Solange der betreffende Staat nicht auf den Bericht des CPT antwortet, d.h. seine Antwort nicht verfasst und veröffentlicht, kann das CPT seinen eigenen Bericht in Übereinstimmung mit der Konvention nicht veröffentlichen. Diese Situation wird von den Kurden natürlich als schockierend und abnormal empfunden. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass die Ermächtigung des CPT, sich dorthin zu begeben, wohin es will und wann es will, ein sehr heikles Thema ist. Wenn das CPT anfängt, gegen bestimmte Regeln zu verstoßen, können die Staaten reagieren, indem sie sagen: „Wir wollen euch nicht mehr, ihr verstoßt gegen die Konvention." Das wäre eine schlechte Situation für alle. Daher ist es wichtig, umsichtig zu sein. Nicht das CPT ist schuld, weil es den Bericht über den erwähnten Besuch vor einem Jahr nicht veröffentlicht hat, sondern die türkischen Behörden, die ihre Antwort auf den Besuch des CPT nicht veröffentlicht haben.
Die Türkei ist verpflichtet, die Antwort auf den letzten Imrali-Besuch des CPT zu veröffentlichen. Auf dieses Problem stoßen wir häufig. Im Europarat, dem insgesamt 45 Länder angehören, veröffentlichen einige Staaten ihre Antwort auf den CPT-Bericht sofort, während andere jahrelang warten und einige sogar warten, bis eine neue Regierung in dem Land gebildet wird.
Die Anwältinnen und Anwälte von Abdullah Öcalan und viele Menschenrechtsaktivisten sagen, dass die Haltung des CPT zu Imrali politisch ist. Glauben Sie, dass das CPT in Bezug auf die Situation von Abdullah Öcalan politisch unter Druck gesetzt wird?
Wenn man einem Ausschuss angehört, der Kritik übt, ist es verständlich, dass die Staaten, die kritisiert werden, oft nicht glücklich sind. Das ist klar. Aber die Behauptung, dass politischer Druck ausgeübt wird, um das CPT daran zu hindern, sich zu äußern, ist ein Argument, das nie bewiesen wurde. Das CPT war immer in der Lage, die Daten, die es in den Gefängnissen erhält, unter Berücksichtigung der Konventionen, an die es sich halten muss, zu äußern.
Die Türkei ist Unterzeichnerin des Europarats und vieler anderer internationaler Abkommen. Trotzdem werden heute nicht nur der kurdische Repräsentant Abdullah Öcalan, sondern auch Tausende von politischen Gefangenen unter sehr harten Bedingungen in türkischen Gefängnissen festgehalten. Verstößt das Vorgehen der Türkei nicht gegen diese Verträge?
Ja, absolut. Diese Verstöße beschränken sich nicht nur auf die politischen Gefangenen, sondern beziehen sich auch auf die allgemeine Situation des kurdischen Volkes. Als ich die Region Kurdistan vor 40 Jahren zum ersten Mal besuchte, wurden die Kurden von den Türken als Hochlandbewohner betrachtet und oft als Menschen zweiter Klasse behandelt. Heute verletzt der türkische Staat weiterhin die Rechte des kurdischen Volkes.
Glauben Sie, dass der Krieg, den der türkische Staat gegen das kurdische Volk in den vier Teilen Kurdistans führt, und die Isolation Öcalans zusammenhängen? Ist die Isolation Teil des Krieges gegen das kurdische Volk?
Ja, das ist sie sicherlich. Denn sie haben Angst vor Öcalan. Sie haben Angst vor dem, was Öcalan tun kann, wenn er freigelassen wird. Nicht nur die Türken haben Angst vor Öcalan, sondern auch andere Länder mit kurdischer Bevölkerung. Sie befürchten, daß Öcalan, wenn er frei ist, die Kurden in diesen Ländern vereinen wird. Sie sehen diese Situation und die Freiheit Öcalans als eine Bedrohung für sich selbst an.
Was möchten Sie als jemand, der in engem Kontakt mit Abdullah Öcalan stand, über seine Rolle und seine Ideen zur Lösung der kurdischen Frage sagen?
Ich glaube, dass irgendwann eine Lösung für die kurdische Frage gefunden werden wird. Es ist unbestreitbar, dass die kurdische Frage auf ähnlicher Ebene wie das aktuelle palästinensisch-israelische Problem Sorgen bereitet. Es ist ein Problem, das einer Lösung bedarf. Ich glaube jedoch, dass Öcalan der „Vater", der Anführer des kurdischen Volkes ist und bleiben wird, und dass seine Ideen sehr positiv und wichtig für das kurdische Volk und für die Lösung der kurdischen Frage sind. Das Problem ist, dass viele Länder diese Sichtweise nicht teilen. Das führt zu Spannungen, und leider sind diese Spannungen nicht auf das kurdische Volk beschränkt, sondern es gibt viele Situationen in der Welt, die dem ähnlich sind, was Sie, das kurdische Volk, durchmachen.
Abdullah Öcalan wurde als Anführer der PKK verurteilt, die von der Türkei als terroristische Organisation betrachtet wird. Was würden Sie zu dieser Definition von Terror sagen?
Zunächst einmal ist es wichtig zu fragen, was ein Terrorist ist. Als ich Mitglied des CPT war, habe ich für einen Antrag gestimmt, die Verwendung des Begriffs „Terrorist" zu verbieten, weil der Begriff an sich nichts bedeutet. Er wird gewöhnlich verwendet, um die Anwendung von Gewalt zu beschreiben. Daher kann jeder Krieg als Terrorismus definiert werden. In seiner gegenwärtigen Definition wird Terrorismus als Mittel zur Diffamierung einer Gruppe von Menschen verwendet.
Wenn man beispielsweise für die Befreiung seines Landes kämpft, kann man als Terrorist bezeichnet werden. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Franzosen, die sich zur Verteidigung ihres Landes einsetzten, als Terroristen bezeichnet. In ähnlicher Weise wurden Tschetschenen, die gegen die Russen kämpften, als Terroristen abgestempelt. Kurz gesagt, sobald man sich gegen etwas wehrt und zu den Waffen greift, um sein Land zu verteidigen, kann man als Terrorist bezeichnet werden. Dieser Begriff hat eigentlich keine Bedeutung und keine Entsprechung.
Im Zusammenhang mit dieser Frage möchte ich Sie nach der Entscheidung der Europäischen Union fragen, die PKK als terroristische Organisation einzustufen. Wie bewerten Sie diese Entscheidung?
Ich war über diese Entscheidung erstaunt. Ich möchte hier den Ausdruck verwenden, den Sie für das CPT verwendet haben: Es kann sein, dass auf die Europäische Union politischer Druck ausgeübt wurde, diese Entscheidung zu treffen, oder dass sie eine politische Entscheidung getroffen hat. Jedenfalls war ich überrascht, dass die EU eine solche Entscheidung getroffen hat.
Als Mitglied des CPT haben Sie Hunderte von Gefängnissen besucht und ein Buch über Ihre Eindrücke in diesen Gefängnissen geschrieben. In welchem Gefängnis herrschen Ihrer Meinung nach die schlimmsten Bedingungen, und wo ordnen Sie das Imrali-Gefängnis ein?
Das hängt von den Kriterien der einzelnen Gefängnisse ab. Ich habe auch Gefängnisse in Zentral- und Nordafrika besucht. In Zentralafrika gibt es Gefängnisse, in denen die Gefangenen verhungern, vor allem in heißen Ländern, wo sie nicht drinnen schlafen können und die Nacht im Freien verbringen müssen, wo sie den Moskitos ausgesetzt sind. Es ist schwierig, die schlimmsten Gefängnisse zu kategorisieren, da dies auch von der Widerstandsfähigkeit der Gefangenen abhängt. Jemand, der geistig stark und körperlich gesund ist, wird das Gefängnis besser überstehen als jemand, der in dieser Hinsicht weniger Glück hat.
Es ist schon lange her, dass ich auf Imrali war. Nach dem zu urteilen, die ich bei diesem Besuch beobachtet habe, schienen die Bedingungen in Imrali damals nicht so schlecht zu sein. Damals war es Abdullah Öcalan erlaubt, sich mit anderen Gefangenen zu treffen, Sport zu treiben und die Medien zu verfolgen. Für einen Gefangenen ist es wichtig und unerlässlich, mit Mitgefangenen in Kontakt zu sein, Sport zu treiben, die Entwicklungen zu verfolgen, Kontakt zur Außenwelt zu haben, sich mit seiner Familie und seinen Anwälten treffen zu können. All das hatte Abdullah Öcalan im Jahr 2013.
Viele dieser Rechte, die Sie 2013 miterlebt haben, wie das Recht auf Kontakt mit Anwälten und Familienangehörigen, also die Verbindung zur Außenwelt, wurden Abdullah Öcalan vollständig entzogen. Den Aussagen seiner Anwältinnen und Anwälte zufolge wurden Abdullah Öcalan auch innerhalb des Gefängnisses viele seiner Rechte genommen. Deshalb möchte ich noch einmal fragen: Sind das keine Verstöße?
Wenn die Situation so ist, wie Sie sagen, dann ist sie völlig inakzeptabel. Als wir Öcalan zum Beispiel 1999 zum ersten Mal besuchten, waren die Haftbedingungen unbefriedigend. Das CPT brachte seine Bedenken bei den türkischen Behörden vor und forderte, dass diese Bedingungen geändert werden. Die Behörden haben nach und nach einige Aspekte der Haftbedingungen geändert. Wenn Öcalan heute wieder unter den gleichen Bedingungen wie 1999 gefangen gehalten wird, ist das sowohl für das CPT als auch für mich inakzeptabel.
Wie Sie vermutlich wissen, erlangte der südafrikanische Anführer Nelson Mandela nach 27 Jahren schwerer Haft seine Freiheit zurück. Die internationale Gemeinschaft spielte eine wichtige Rolle in dem Prozess, der Mandela in die Freiheit führte. Sehen Sie eine Ähnlichkeit zwischen der Situation des kurdischen Anführers Abdullah Öcalan und der von Mandela? Kann die internationale Gemeinschaft auch eine Rolle für die Freiheit von Abdullah Öcalan spielen?
Ja, auf jeden Fall. Als ich mich mit Öcalan traf, war das eines der Themen, über die wir mehrmals sprachen. Ich habe das Beispiel von Nelson Mandela erwähnt, wie Mandela, der in seinem eigenen Land als Terrorist galt, freigelassen wurde und dann zum Führer seines Landes wurde, und wie er immer die Hoffnung bewahrte. Wir können über Ähnlichkeiten zwischen Öcalans Situation und Mandelas Situation sprechen. Der gleiche Prozess kann für Öcalan stattfinden.
Kann die internationale Gemeinschaft auch etwas für seine Freiheit tun?
Natürlich kann die internationale Gemeinschaft etwas für Öcalan tun. Aber im Moment, in der angespannten internationalen Lage, in der wir uns befinden, glaube ich nicht, dass dies eine Priorität sein wird, zumindest nicht aus der Sicht der internationalen öffentlichen Meinung. Aber natürlich können sie etwas für Öcalan ändern.
Können die Vereinten Nationen nicht dazu beitragen, die Bedingungen zu ändern, unter denen Abdullah Öcalan inhaftiert ist?
Ja, die Vereinten Nationen (UN) können in Öcalans Situation intervenieren. Auch der UN-Sonderberichterstatter gegen Folter kann sich mit Öcalans Situation befassen. An diesem Punkt würde eine Stimme erhoben werden.
Am 10. Oktober gaben Politikerinnen und Politiker, Schriftsteller, Intellektuelle, Menschenrechtsverteidiger, Gewerkschaften, darunter weltbekannte Persönlichkeiten, an 74 Orten in der ganzen Welt eine gemeinsame Erklärung ab und starteten eine Kampagne mit der Forderung „Freiheit für Abdullah Öcalan und eine politische Lösung der kurdischen Frage". Was möchten Sie zu dieser Kampagne sagen?
Es ist eine wichtige Situation. Es ist notwendig, solche Kampagnen fortzusetzen. Die Mahnwache für die Freiheit Öcalans in der Nähe des Europarats in Straßburg ist zum Beispiel eine wichtige Aktion. Es ist notwendig, Aktionen zur Anerkennung Öcalans fortzusetzen.
Abdullah Öcalan ist heute als Repräsentant des kurdischen Volkes anerkannt und vertritt somit mehr als 40 Millionen Menschen. Trotzdem ist er seit 25 Jahren in einem Land inhaftiert, das von Erdoğan regiert wird, der von vielen als diktatorisches Regime angesehen wird. Was kann Ihrer Meinung nach getan werden, um die Bedingungen, unter denen Öcalan sich befindet, zu ändern?
Natürlich müssen wir Druck auf Erdoğan ausüben und alles tun, was wir können, um einen Wandel herbeizuführen. Aber ich weiß nicht, was wir noch tun können. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass die Menschen weiterhin mobilisieren und vor allem Öcalan nie vergessen und ihn weiterhin umarmen.
Haben Sie eine Botschaft für die Freiheit des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan?
Ich wiederhole: Öcalan ist unbestreitbar der Vater und Anführer des kurdischen Volkes. Wenn man einen Vater, einen Anführer in Gefangenschaft hat, will man ihn schützen. Da ich ein sehr aufrichtiges und sogar sympathisches Verhältnis zu Öcalan habe, möchte ich persönlich, dass er so schnell wie möglich aus dem Gefängnis entlassen wird und frei ist. Dieser Wunsch ist für mich ganz klar. Ich wiederhole, ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass Öcalan frei ist, und ich hoffe, ihn bald in seinem eigenen kurdischen Staat besuchen zu können.
Wer ist Jean-Pierre Restellini?
Jean-Pierre Restellini ist ein Schweizer Arzt und Jurist, der über 30 Jahren als Experte für das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter tätig war. Parallel zu seiner Arbeit für das CPT war Restellini zwischen 2009 und 2015 auch Vorsitzender der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter in der Schweiz. Restellini hat Hunderte von Gefängnissen auf der ganzen Welt besucht und ein Buch mit dem Titel „Reisetagebücher eines Arztes, der medizinische Inspektionen in europäischen Gefängnissen durchführt" geschrieben.