Die HEDEP-Fraktion im Parlament in Ankara hat beim türkischen Justizministerium einen Antrag auf Erteilung einer Besuchserlaubnis im Inselgefängnis Imrali gestellt. Der Besuch solle nicht nur die Isolation des seit Jahren auf der Insel im Marmarameer totalisolierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan durchbrechen, sondern auch einen Austausch mit ihm über eine demokratische Lösung der kurdischen Frage ermöglichen. Das sagte der Abgeordnete Cengiz Çiçek am Donnerstag vor Medienschaffenden. Kontakt zu Öcalan sei unabdingbar – für einen würdevollen Frieden und die bis heute ungelöste „Mutter aller Fragen“. Ihre Nichtlösung und die daraus resultierende Verschärfung der Kriegspolitik würde wie ein Krebsgeschwür um sich fressen.
„Die kurdische Frage ist seit Gründung der Türkischen Republik vor hundert Jahren ein andauerndes und das entscheidende Problem dieses Staates. Wie sie beantwortet wird, ist von zentraler Bedeutung für die Zukunft der Türkei“, erklärte Çiçek. Der Politiker betonte, dass die politische Machtelite seit jeher von einer im ethnischen Sinne gegen die Kurdinnen und Kurden gerichteten Zerstörungswut geleitet werde und Kern des gesamten Handelns des Staates eine Art anti-kurdische Mission sei. „Doch solange diese auf Feindseligkeit gegenüber dem kurdischen Volk beruhende Staatspraxis nicht aufgegeben wird, solange Menschen, die den Kurdinnen und Kurden als legitime politische Repräsentanten gelten und ihren Willen vertreten, nicht als solche respektiert werden, solange der Kriegspolitik kein Ende gesetzt wird, wird dieser allgegenwärtige Umstand nicht nur uns aufzehren, sondern alle Menschen in der Türkei.“
Die HEDEP-Fraktion informiert bei einer Presseerklärung über den Antrag beim Justizministerium
Çiçek, der bis zu seiner Wahl als Rechtsanwalt arbeitete und neben seiner Abgeordnetentätigkeit für die HEDEP zugleich Ko-Sprecher des HDK (Demokratischer Kongress der Völker) ist, überließ das Wort im Anschluss an den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Saruhan Oluç, der die juristische Dimension des Umgangs des türkischen Staates mit Abdullah Öcalan in den Fokus rückte. Er bezeichnete Imrali als ein juristisches schwarzes Loch, die Bedingungen dort seien mehr als „inhuman und entwürdigend“ und jenseits von Recht und Menschlichkeit. „Im Grunde ist das Regime auf Imrali eine der größten Ungesetzlichkeiten in der Geschichte dieses Landes. Der Vollzug in der Türkei ist eindeutig geregelt. Die Verfassung und das Völkerrecht legen die Rechte der Gefangenen fest. Doch das System Imrali liegt jenseits von alldem. Es wird ein Sonderrecht umgesetzt, das gegen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, des türkischen Verfassungsgerichtshofs, gegen die Verfassung der Türkei und das türkische Vollzugsgesetz verstößt. Und wenn eine Regierung sich über das Gesetz hinweggesetzt, ist es unsere Pflicht als von der Bevölkerung gewählte Repräsentanten, gegen diese Ungesetzlichkeiten Stellung zu beziehen.“
Abdullah Öcalan wird seit Jahren wieder vollständig von seiner Außenwelt abgeschottet. Der letzte Kontakt zu ihm war ein im März 2021 geführtes Telefongespräch zwischen ihm und seinem Bruder, das aus unbekannten Gründen nach wenigen Minuten abbrach. Öcalans Verteidigungsteam hat das letzte Mal im August 2019 mit ihm sprechen können – erstmals nach acht Jahren Kontaktsperre. Die anderen drei Imrali-Gefangenen Ömer Hayri Konar, Hamili Yıldırım und Veysi Aktaş haben seit ihrer Verlegung in das Hochsicherheitsgefängnis im Jahr 2015 gar keinen Kontakt mehr zu ihrer Rechtsvertretung gehabt. Sämtliche in diesem Zeitraum gestellte Besuchsanträge wurden von den türkischen Justizbehörden entweder ignoriert oder abgelehnt. Öcalan und seinen Mitgefangenen wird eine illegale Incommunicado-Haft auferlegt, die auf ihre körperliche und physische Vernichtung abzielt. In Incommunicado-Haft unterliegen Inhaftierte nicht nur einer vollständigen Isolation, sondern auch einer absoluten Kontaktsperre. Wann das türkische Justizministerium auf den Besuchsantrag der HEDEP-Fraktion reagieren wird, ist unklar.
Wichtigster politischer Repräsentant der kurdischen Freiheitsbewegung
Abdullah Öcalan führte von der Gründung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 1978 bis zu seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung aus Kenias Hauptstadt Nairobi auf die türkische Gefängnisinsel Imrali am 15. Februar 1999 als Vorsitzender der PKK den kurdischen Befreiungskampf an. Er gilt nach wie vor als führender Stratege und wichtigster politischer Repräsentant der kurdischen Freiheitsbewegung. Seine in Isolationshaft verfassten Gefängnisschriften, in denen er den Paradigmenwechsel der PKK von einer nationalen Befreiungspartei hin zu einer radikaldemokratischen, multiethnischen und politisch offenen Basisbewegung für den gesamten Mittleren Osten anstieß und die politische Philosophie des Demokratischen Konföderalismus begründete, haben seit 1999 weltweit große Beachtung gefunden. Mehrfach initiierte Öcalan einseitige Waffenstillstände der Guerilla und lieferte konstruktive Vorschläge für eine demokratische und politische Lösung der kurdischen Frage. Der letzte Dialog staatlicher Stellen mit ihm wurde 2015 einseitig von der türkischen Regierung beendet. Am 4. April wurde Abdullah Öcalan 74 Jahre alt.