„Rassismus ist keine Krankheit, sondern eine Systemfrage“

Nach dem Lynchversuch an kurdischen Erntehelfer*innen in Sakarya versuchen die türkischen Behörden, den rassistischen Hintergrund zu vertuschen.

Die HDP-Abgeordnete Züleyha Gülüm, die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin und die Istanbuler IHD-Vorsitzende Gülseren Yoleri haben sich gegenüber ANF zu dem brutalen Angriff auf kurdische Saisonarbeiter*innen in Sakarya geäußert. Bei dem Angriff am Freitag wurde eine 16-köpfige Gruppe von Erntehelfer*innen aus Mêrdîn (türk. Mardin) im westtürkischen Sakarya von einem Landwirt und seinen Verwandten beinahe gelyncht. Der Mob bestand aus zwei Söhnen des Besitzers einer Haselnuss-Plantage und weiteren Bewohnern des Ortes. Auf Videoaufnahmen ist zu erkennen, wie die Saisonarbeiter*innen von mehreren männlichen Personen attackiert werden.

Nicht der erste rassistische Lynchversuch

Züleyha Gülüm, Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP), macht darauf aufmerksam, dass es sich nicht um den ersten rassistischen Angriff auf Kurden handelt. Es gebe weitere traurige Beispiele von Angriffen auf Menschen, die Kurdisch gesprochen haben oder wegen ihrer kurdischen Identität verletzt oder ermordet worden sind.

„Leider sind viele Angreifer straffrei ausgegangen. Es ist nicht wirklich juristisch gegen sie vorgegangen worden. In vielen Fällen wurden nicht einmal Ermittlungsverfahren eingeleitet.“ Dass auch in dem aktuellen Fall eine „Politik der Straflosigkeit“ angewendet werden soll, sei aus der Erklärung des Gouverneursamtes hervorgegangen. „Die Grundlage dafür ist die kurdenfeindliche Politik der Regierung. Um sich an der Macht zu halten, polarisiert die Regierung die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und hetzt sie gegeneinander auf. Anstatt einen Lösungsprozess für die kurdische Frage einzuleiten, wird auf Krieg, Rassismus und Militarismus gesetzt. Dadurch werden bestimmte Kreise gestärkt. Dagegen muss eine Politik gestellt werden, die das Land nicht spaltet, sondern die Solidarität der Völker fördert.“

Der aktuelle Fall sei außerdem ein Beispiel für die Ausbeutung von Saisonarbeitskräften, die zu Niedriglöhnen arbeiten und oft gänzlich um ihren Lohn geprellt werden, so die HDP-Abgeordnete.

Militarismus in Sakarya

Gülseren Yoleri, Vorsitzende der Istanbuler Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD, verweist ebenfalls auf die bewusste Falschinformation des Gouverneursamtes von Sakarya. Das Amt hatte versucht, den Vorfall zu vertuschen, und behauptet, der Angriff habe sich im vergangenen Jahr in Kocaeli ereignet und es sei keine Anzeige bei der Polizei eingegangen. Die Betroffenen hatten jedoch ausgesagt, dass die Militärpolizei mehrmals verständigt worden sei, aber nicht gekommen wäre. Yoleri hat mit ihnen gesprochen und bestätigt, dass es sich um einen rassistischen Angriff gehandelt hat. Sakarya sei eine Provinz mit einem hohen Zuwanderungsanteil und bekannt für eine ausgeprägte nationalistische und rassistische Grundstimmung der Bevölkerung. „Auch für Menschenrechtler ist es nicht leicht, dort tätig zu werden. Es kommt ständig zu großen Problemen. In Sakarya herrscht eine Atmosphäre, in der leicht zu Nationalismus und Rassismus angestachelt werden kann.“

Rassismus wird organisiert verbreitet

Die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin, Ko-Vorsitzende des IHD, kritisiert, dass Rassismus häufig als Krankheit bezeichnet wird: „Wäre es eine Krankheit, hätte eine Medizin gefunden werden können. Es ist jedoch vielmehr eine Systemfrage, die uns allen nur zu gut bekannt ist. In diesem Land ist selbst eine Auseinandersetzung mit rassistisch motivierten Verbrechen ein Tabu. Beispielsweise darf nicht über die Völkermorde von 1915 oder 1938 in Dersim diskutiert werden. Der Jurist Mahmut Esad Bozkurt sagt: Wenn du kein Türke bist, ist es deine Aufgabe, den Türken zu dienen. In diesem Land herrscht eine totalitäre Struktur und die rassistische Politik des Staates wirkt sich auf die Bevölkerung aus. Rassismus wird auf sehr organisierte Weise verbreitet.“