Pervin Buldan: Die Bevölkerung führt uns

Die Ko-Vorsitzende der HDP Pervin Buldan erklärt selbstbewusst, dass es zwischen Erdêxan und Edirne niemanden gibt, den ihre Partei nicht erreichen könnte: „Die Bevölkerung führt uns. Wir werden Tag und Nacht arbeiten!"

Im Interview mit unserer Nachrichtenagentur erklärt die Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP) Pervin Buldan, dass die türkische Regierung nichts unversucht lassen wird, um die HDP unter die 10%-Wahlhürde zu drücken. Das sei für ihre Partei und ihre Wählerschaft nichts Neues. „Wir müssen einfach darauf hinarbeiten, mehr Wähler*innen zu erreichen, als sie Stimmen klauen können", so Buldan.

Im Folgenden geben wir das komplette Interview mit Pervin Buldan wieder:

Ihrer Partei widerfährt seit den Wahlen vom 7. Juni 2015 enorme Repression. Angefangen bei Ihren Ko-Vorsitzenden wurden Zehntausende Ihrer Mitglieder festgenommen. Wie bereiten Sie sich trotz dieser Umstände auf die Wahlen am 24. Juni vor?

Wir wissen, dass wir vor keiner einfachen Herausforderung stehen. Allerdings sind wir keine Partei, die nicht mit solch heiklen Phasen schon Bekanntschaft gemacht hätte. Die Geschehnisse zwischen den Wahlen am 7. Juni und dem 1. November 2015 haben große Wirkungen bei den Gesellschaften der Türkei und den Kurd*innen hinterlassen. Am 7. Juni hatten wir trotz aller staatlichen Gegenmaßnahmen 13,1 Prozent der Wähler*innen auf uns vereint. Beim Wahlkampf für die darauffolgenden Neuwahlen am 1. November ignorierten uns die Medien, es wurden Ausgangssperren in den kurdischen Gebieten verhängt und zahlreiche andere Repressionsformen geprobt. Dennoch gelang es uns abermals die 10%-Hürde zu nehmen und unsere Kandidaten ins Parlament zu entsenden.

In den vergangenen drei Jahren wurde dann geradezu ein Vernichtungsfeldzug gegen unsere Partei geführt. Uns sollte damit das Mittel der demokratischen Politik entzogen werden. Ein Teil unserer Abgeordneten wurde festgenommen, andere verloren ihr Mandat und wurden aus dem Parlament geschmissen. Trotz dessen haben unsere Mitglieder im Parlament weiterhin versucht, sich nicht beirren zu lassen und ihren politischen Kampf fortgeführt.

Sie [die türkische Regierung] wird nun wieder alles daransetzen, damit uns der erneute Einzug ins Parlament misslingt. Natürlich sind schwierige Phasen wie diese für unsere Partei und unsere Wählerschaft nichts Neues. Auf jeden festgenommen Kreis- und Provinzvorsitzenden unserer Partei folgen Tausende Genoss*innen, die bereit sind, die entstandene Lücke zu füllen.

Wir werden Sie dafür sorgen, dass Ihr Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtaş im Wahlkampf präsent ist?

Uns ist klar, dass sich die Wahlkampagne eines Kandidaten, der sich in Haft befindet, nicht einfach gestaltet. Wir werden versuchen, die Botschaften, die er über seine Anwält*innen an die Öffentlichkeit übermittelt, an die Völker der Türkei zu tragen. Wir werden einen Wahlkampf mit großen öffentlichen Kundgebungen, Bevölkerungsbesuchen und kollektivem Fastenbrechen organisieren. Selbstverständlich wird es auch viele verschiedene Zusammenkünfte mit Frauen und ihren Verbänden geben. Denn unsere Partei ist auch eine Frauenpartei. Wir werden gemeinsam mit der Frauenbewegung versuchen, alle Frauen dieses Landes zu erreichen.

In dieser einmonatigen Zeitspanne wird es zwischen Erdêxan und Edirne keinen Ort geben, den wir nicht besuchen werden. Es wird keinen Menschen und keine Gruppe geben, denen wir nicht unsere Hände entgegenstrecken werden. Unsere Motivation stimmt. Das haben wir auch bei unserer Tour durch die Bevölkerung nach Bekanntgabe des Wahltermins deutlich gespürt. Die Bevölkerung führt uns. Unsere Partei verfügt über eine Anhängerschaft, die voranschreitet und uns führt. Deshalb wird dieser Wahlkampf auch gemeinsam mit unserer Bevölkerung geführt. Bis zum 24. Juni werden wir Tag und Nacht arbeiten und diesen Wahlkampf zum Erfolg führen.

Sie haben die Wahllisten Ihrer Partei veröffentlicht. Unter Berücksichtigung welcher Kriterien wurden die Kandidat*innen ausgesucht?

Wir verfügen über ein buntes und reiches Kandidat*innenprofil. Unsere für Kurdistan und die Türkei aufgestellten Kandidat*innen wurden mit Zustimmung unserer jeweiligen lokalen Strukturen und Anhängerschaft ausgewählt. Viele Kandidat*innen aus der Westtürkei wurden von unseren verschiedenen Bündnispartner*innen vorgeschlagen und sind auf diese Weise auf die Liste gekommen. Unsere Kandidat*innen in Kurdistan wurden im Dialog mit den lokalen Verbänden bestimmt.

Der Anteil unser weiblichen Kandidatinnen beträgt fast 40 Prozent. Ein Teil von ihnen wurde von den Frauenbewegungen der Türkei vorgeschlagen. Wir haben uns sehr darum bemüht, die Vielfalt und den Pluralismus des Landes in unseren Kandidat*innenlisten widerzuspiegeln. In der Türkei gibt es außer der HDP keine Partei, die auf diese Weise die Vielfalt der Türkei anspricht und eine gemeinsame Vision für diese aufmacht. Die Repräsentanz dieser Vielfalt wird nach dem Wahltag am 24. Juni im Parlament vertreten sein.

Sie haben auch mit Vertreter*innen anderer kurdischer Parteien gesprochen. Haben diese Gespräche zu einem Erfolg geführt?

Nur teilweise. Einige Parteien und Organisationen sind Teil unseres Bündnisses. Andere haben es vorgezogen, außen vor zu bleiben. Wir respektieren zwar ihre Entscheidung, aber wir hätten uns doch eine Zusammenarbeit gewünscht. Es ist nämlich nicht die passende Zeit, um aufgrund persönlicher Differenzen Bündnisse zu meiden. Eine solche Haltung schwächt den Freiheitskampf. Die enge Zusammenarbeit mit kurdischen Gruppen ist für uns äußerst wichtig. Wir arbeiten seit Jahren auf dieses Ziel hin. Wir hoffen, dass die Früchte dieser Arbeit sich zeitnah sehen lassen.

In Amed hatten wir die Deklaration für die Lösung der kurdischen Frage verkündet. Von nun an hat keine Kurdin und kein Kurde den Luxus, ein kurdisches Bündnis zu meiden. Alle versuchen ihre Spielchen auf dem Rücken der kurdischen Bevölkerung zu treiben. Vor dem Hintergrund dieses Leids müssen wir nun gemeinsam agieren. Mit der Verkündung der Deklaration haben wir auch einen solchen Aufruf an alle kurdische Organisationen gemacht. Jeder und jede trägt die Verantwortung, Teil dieses Bündnisses zu sein. Jeder sollte sich nochmal selbst kritisch hinterfragen und seiner Verantwortung gerecht werden. Wir hoffen, dass die Reaktionen auf diesen Aufruf positiv sein werden.

In Europa lebt eine große kurdische Diaspora. Sie verfügen deshalb über einen nicht zu unterschätzenden Wähler*innenanteil. Möchten Sie Ihren Anhänger*innen in Europa etwas mitteilen?

Ein Erfolg am 24. Juni hängt auch vom Votum der Wähler*innen in Europa ab. Das haben wir bei den Wahlen vom 7. Juni 2015 deutlich gesehen. Die Stimmen aus Europa hatten damals einen entscheidenden Einfluss auf unseren Erfolg. Wir denken, dass ihre Verantwortung in dieser Phase noch größer ist. Denn sie können ihren Wahlkampf in Europa freier führen als wir hier. Unsere dort lebenden Anhänger*innen sollten auch ihre Angehörigen in der Türkei und Kurdistan für die Wahlen mobilisieren. Auch das ist Teil ihrer Verantwortung. Und natürlich heißt es, mit aller Kraft die Wählerschaft in der Diaspora zu den Wahlen zu bewegen. Das ganze muss mit einer Aufbruchstimmung erfolgen.

Deshalb möchte ich an unsere Bevölkerung in Europa nochmals folgende Worte richten: Egal wie groß die Distanz zwischen der Türkei und Europa ist, es ist jetzt die Zeit, uns die Hände zu reichen und gemeinsam zu arbeiten.

In Europa verfügt die AKP über eine große Wählerschaft. Wir sollten uns nicht scheuen, auch diese Menschen zu erreichen und sie von der HDP zu überzeugen. Wir sollten ihnen die Krise und das Chaos in der Türkei vor Augen führen und sie dazu bewegen, nicht noch einmal dieser Regierung ihre Stimmen zu geben. Eine solche Arbeit ist dringend notwendig.

Mit einer erfolgreichen Wahlarbeit in Europa können wir die Anzahl unserer Abgeordneten erhöhen. Deshalb sollten alle die Ärmel hochkrempeln und sich an die Arbeit machen!

Sie hatten erklärt, dass sie mehr Wähler*innen erreichen müssen, als die AKP Stimmen klauen kann. Was sind Ihre Befürchtungen?

Die AKP setzt wirklich alles daran, die HDP bei den Wahlen am 24. Juni unter die Wahlhürde zu drücken. Deswegen müssen wir tatsächlich so arbeiten, dass die Wahlhürde zu keinem Risiko für uns wird. Wir müssen so viele Stimmen sammeln, dass selbst eine groß angelegte Wahlmanipulation ihnen nicht zum Erfolg verhelfen kann. Wir haben also viel Arbeit vor uns. Aber wir sind auch hochmotiviert. Möge unser aller Weg frei sein!