Ok: Es herrscht eine außergewöhnliche Situation

„Wir wissen nicht genau, was vor sich geht, aber wir wissen, dass die Lage ernst ist. Es herrscht eine außergewöhnliche Situation, die vor uns und unserem Volk verheimlicht wird“, sagt Sabri Ok (KCK) über den ungewissen Zustand von Abdullah Öcalan.

Sabri Ok, Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), hat sich zu der aktuellen Situation von Abdullah Öcalan geäußert. Laut Ok liegen Informationen vor, dass eine Delegation des Antifolterkomitees des Europarats (CPT) zweimal auf die Gefängnisinsel Imrali gereist ist, aber bei beiden Besuchen kein Gespräch mit Öcalan zustande kam. Das Thema löse Skepsis und Wut aus, sagt Ok: „Wir wissen nicht genau, was vor sich geht, aber wir wissen, dass die Lage ernst ist. Es herrscht eine außergewöhnliche Situation, die vor uns und unserem Volk verheimlicht wird.“

Kein gewöhnlicher Gefangener

Ok weist darauf hin, dass Abdullah Öcalan seit fast 24 Jahren im Hochsicherheitsgefängnis Imrali isoliert wird und es seit März vergangenen Jahres kein Lebenszeichen mehr gibt. Der türkische Staat und das AKP/MHP-Regime übten mit allen Mitteln und Methoden Druck auf Öcalan aus, der letzte Kontakt mit seinen Anwält:innen habe im August 2019 stattgefunden, erläutert Ok und sagt:

„Bekanntlich ist Rêber Apo [Abdullah Öcalan] kein gewöhnlicher Gefangener. Die ganze Welt weiß, wer Rêber Apo ist. Er ist der Anführer des kurdischen Volkes und der Schöpfer des Paradigmas der Demokratischen Moderne. Dieses Paradigma betrifft die gesamte Gesellschaft und die Menschheit, insbesondere die Frauen. Rêber Apo hat Verantwortung für das 21. Jahrhundert übernommen und erfüllt seine Aufgabe auf ideologische, theoretische und philosophische Weise.“

War das CPT überhaupt auf Imrali?

Die kapitalistische Moderne und der türkische Staat fühlten sich durch den Einfluss dieses Paradigmas gestört, so Ok: „Aus diesem Grund üben sie auf unmenschliche Weise Druck auf unsere Führung aus und verstoßen dabei gegen alle Gesetze, sogar gegen das Völkerrecht. Nicht nur die faschistische AKP/MHP-Regierung, sondern auch Kräfte wie die USA, Europa und der Europarat, die sich an dem internationalen Komplott beteiligen, setzen die verschärfte Isolation um. Das CPT, das so genannte Komitee zur Verhütung von Folter, ist seiner Pflicht zur Verhinderung der Isolation vom ersten Tag an nicht nachgekommen. Es hat einen sehr politischen Ansatz gewählt und die rechtlichen Kriterien außer Acht gelassen. Vor einiger Zeit gab das CPT bekannt, dass es Imrali besucht und sich mit Rêber Apo und Heval Ömer Hayri Konar, Veysi Aktaş und Hamili Yıldırım getroffen habe. Über den Inhalt des Treffens und den Gesundheitszustand von Rêber Apo machten sie jedoch keine Angaben. Sie waren nur zu Besuch. Anschließend erkundigten sich die Anwälte von Rêber Apo beim CPT nach seinem Gesundheitszustand und wollten darüber informiert werden. Das CPT hat den Anwälten nicht geantwortet, sie haben nicht einmal gesagt, ob sie Imrali besucht haben oder nicht. Dadurch entstand eine andere Situation.“

Die Ideen von Öcalan sollen nicht verbreitet werden

„Warum hat das CPT nicht gesagt, ob es ein Treffen mit Rêber Apo gab oder nicht?“, fragt Sabri Ok und führt aus: „Es besteht kein Zweifel daran, dass Rêber Apo stets Meinungen und Vorschläge zur kurdischen Frage, zur Demokratisierung der Türkei, zu Rojava, zum Nahen Osten und zu den Entwicklungen in der Welt hat. Der türkische Staat und die internationalen Mächte wollen nicht, dass die Ideen und Vorschläge von Rêber Apo gehört werden und die Gesellschaft erreichen. Denn sie wissen sehr wohl, wie wichtig und wirksam diese Ideen und Meinungen sind. Was uns skeptisch macht, ist der Gesundheitszustand von Rêber Apo. Wenn das CPT angibt, ein Gespräch geführt haben, werden die Anwälte auch nach dem Gesundheitszustand ihres Mandanten fragen, und das CPT wird darauf antworten müssen. Das CPT lässt jedoch alle Anfragen unbeantwortet, um dies zu vermeiden, es will nicht antworten. Deshalb sagt es auch nicht, ob sie auf Imrali war oder nicht. Wir als PKK und das kurdische Volk halten diese Frage für sehr wichtig.“

Die Situation ist ernst

„Es gibt Informationen, dass das CPT zweimal nach Imrali gereist ist, aber Rêber Apo hat sich bei beiden Besuchen nicht mit dem CPT getroffen. Es ist richtig, dass wir dieses Thema mit Skepsis und Wut angehen. Wir wissen nicht genau, was vor sich geht, aber wir wissen, dass die Lage ernst ist. Es herrscht ein Ausnahmezustand. Das wird vor uns und unserem Volk geheim gehalten. Deshalb sollte unser Volk wissen, dass das, was hier passiert, nicht normal ist, dass die Lage ernst ist. Das faschistische AKP/MHP-Regime und die internationalen Mächte wissen sehr wohl, was das Leben, die Gesundheit und das Atmen von Rêber Apo für das kurdische Volk bedeutet. Rêber Apo steht für unsere Existenz, unsere Geschichte, unser Leben, unser Alles. Diese Tatsache muss zuallererst anerkannt werden.“

Sie verbergen die Wahrheit und wollen Zeit gewinnen“

„Wir wissen, dass der türkische Staat und die Kräfte des internationalen Komplotts die Wahrheit nicht mit unserem Volk und unserer Partei teilen wollen. Sie verbergen die Wahrheit. Sie versuchen, Zeit zu gewinnen. Wir müssen wissen, was sie in ihren Köpfen vorhaben. Aber das ist keine normale Situation. Hierfür sind viele Organisationen und Einzelpersonen verantwortlich. Das CPT ist verantwortlich, es muss seiner Pflicht so schnell wie möglich nachkommen. Es muss ehrlich sein, die Haltung des kurdischen Volkes verstehen und die Fakten öffentlich machen. Der Europarat ist ebenfalls zuständig. Er zeigt in vielen Fragen Reflexe, handelt aber unverantwortlich, wenn es um die Existenz, das Leben und die Zukunft des kurdischen Volkes geht. Dieser Ansatz ist inakzeptabel. Der Europarat muss seiner Rolle gerecht werden und diese gefährliche Situation verhindern. Die USA und alle internationalen Mächte sind für diese Situation verantwortlich. Das kurdische Volk und die PKK wissen das sehr gut. Unser Volk, unsere Bewegung und unsere Freundinnen und Freunde werden zweifellos so lange beharren, bis diese Frage geklärt ist.“

Es muss ein entsprechender Kampf geführt werden“

Sabri Ok sagt, dass die physische Freiheit von Abdullah Öcalan höchste Priorität hat: „Eine Gesellschaft, deren Identität nicht anerkannt wird, wird ignoriert. Dank des 50-jährigen Kampfes und der Arbeit von Rêber Apo und des Volkes haben die Kurden heute nicht nur Einfluss auf ihre eigene Zukunft, sondern auf die Zukunft des gesamten Nahen Ostens. Am Ende von so viel Arbeit und Kampf muss Rêber Apo physisch befreit werden. Solange Rêber Apo nicht befreit ist, wird unser Kampf weitergehen und noch mehr wachsen. Wir halten diese Informationen für wichtig und ernsthaft. Das Thema ist Rêber Apo. Auch unser Volk muss erkennen, dass diese Situation außergewöhnlich ist und ein entsprechender Kampf geführt werden muss.“

Wir haben das Recht, auf Verbrechen zu reagieren“

Die Situation könne nur durch Kampf auf politischer und diplomatischer Ebene und einen Volksaufstand geklärt werden, sagt Sabri Ok: „Der türkische Staat setzt täglich chemische Waffen gegen die Guerilla in den Medya-Verteidigungsgebieten ein. Es sind auch Bilder aufgetaucht, die zeigen, wie sie verbotene Waffen einsetzen. Der Feind greift das kurdische Volk auf jede erdenkliche Weise an. Dessen sind wir uns zweifellos bewusst, wir kämpfen entschlossen und organisiert auf dem von Rêber Apo aufgezeigten Weg. Daher haben wir diesen Zeitraum als eine Periode der Existenz und Nichtexistenz definiert, was durch die Entwicklungen im Zusammenhang mit Rêber Apo noch mehr an Gültigkeit gewonnen hat.

Die internationalen Organisationen, insbesondere das CPT und der Europarat, müssen die Situation klären, das ist ihre Pflicht. Wir appellieren an sie: Wenn sie ihren Pflichten nicht nachkommen, machen sie sich wieder einmal mitschuldig an diesem Verbrechen. Wir rufen auch unser Volk, insbesondere die kurdische Jugend und die kurdischen Frauen, sowie unsere Freundinnen und Freunde auf, diesen Prozess anzuführen. Sie sollten die derzeitige Situation nicht akzeptieren und Maßnahmen ergreifen, bis sie Nachrichten von Rêber Apo erhalten. Wenn der türkische Staat Besuche auf Imrali verhindert, bedeutet das, dass er ein Verbrechen begeht. Wenn so etwas passiert, haben wir das Recht, entsprechend zu reagieren.“

 

Hintergrund: Kein Kontakt zu Imrali-Gefangenen

Abdullah Öcalan wurde am 15. Februar 1999 mit einem internationalen Coup aus Kenia in die Türkei verschleppt und wird mit seinen drei Mitgefangenen Ömer Hayri Konar, Hamili Yıldırım und Veysi Aktaş seit Jahren isoliert. Seit 2019 gilt auf Imrali wieder ein striktes Anwaltsverbot, der letzte Besuch des Verteidigungsteams von Öcalan fand im August 2019 statt. Konar, Yıldırım und Aktaş haben seit ihrer Verlegung in das Inselgefängnis 2015 noch nie von ihrem Recht auf anwaltliche Vertretung Gebrauch machen können.

CPT-Delegation inspiziert Imrali

Das Antifolterkomitee des Europarates (CPT) hat im September einen Ad-hoc-Besuch in der Türkei absolviert und am 3. Oktober eine Erklärung dazu abgegeben. In der Mitteilung hieß es, es seien die allgemeine Behandlung und Haftbedingungen der Imrali-Gefangenen überprüft worden mit dem Fokus auf Gemeinschaftsaktivitäten und Kontakten zu ihrer Außenwelt.

Erklärung der Anwaltskanzlei Asrin

Die Istanbuler Anwaltskanzlei Asrin, die Öcalan und seine Mitgefangenen juristisch vertritt, gab am 29. November bekannt, dass beim CPT-Besuch auf Imrali gar kein Kontakt mit Öcalan zustande kam. Ein persönliches Gespräch mit Vertretern des Gremiums habe die Bedenken um die Situation auf der Insel dann zusätzlich noch verstärkt, da selbst geringste Informationen über die Bedingungen der Imrali-Gefangenen verweigert wurden.

KCK fordert sofortige Aufklärung

Die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) hat das Antifolterkomitee am 5. Dezember aufgefordert, Klarheit in Bezug auf die Situation von Abdullah Öcalan zu schaffen. Die KCK wies in ihrer Erklärung erneut darauf hin, dass die Aufhebung der Isolation auf Imrali auch die Kanäle für eine Lösung der kurdischen Frage entsperren und damit eine Demokratisierung der Türkei einleiten könne.

Letztes Lebenszeichen im März 2021

Ein letztes Lebenszeichen aus Imrali gab es in Form eines Telefonats Öcalans mit seinem Bruder im März 2021, das nach Gerüchten über Öcalans Tod zustande kam und aus unbekannten Gründen nach wenigen Minuten abbrach. Die Anwaltskanzlei Asrin stellt zwar regelmäßig Besuchsanträge, um ihre Mandanten zu sehen. Die türkischen Behörden lehnen diese Ersuchen jedoch ab oder ignorieren sie. Ähnlich verhält es sich bei Besuchsanträgen von Familienangehörigen. Als juristische Ummantelung für das Unrecht auf der Insel im Marmarameer dienen der türkischen Justiz in der Regel willkürlich verhängte „Disziplinarmaßnahmen“ gegen die Imrali-Gefangenen. Lange Zeit zogen die türkischen Behörden als Begründung für das Besuchsverbot des Anwaltsteams sogar die 2009 von Öcalan dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vorgelegte „Roadmap für Verhandlungen“ heran.

Offener Rechtsbruch

Das Verbot von Anwaltsbesuchen im Imrali-Gefängnis verstößt offen gegen die 2015 aktualisierten Standard-Mindestregeln der Vereinten Nationen (UN) für die Behandlung von Gefangenen (Nelson-Mandela-Regeln), gegen die Empfehlungen des Antifolterkomitees des Europarats und gegen das türkische Vollzugsgesetz (Gesetz Nr. 5275). Staaten sind verpflichtet, die Ausübung der Rechte von Gefangenen und Verurteilten ohne Rücksicht auf ihre Identität oder die Qualität ihrer Strafe zu gewährleisten. Doch die türkische Justiz ist nicht gewillt, die menschenverachtenden Haftbedingungen auf Imrali zu korrigieren und hält an einer Behandlung nach Feindstrafrecht fest.