In einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) fordern Angehörige von deutschen Gefallenen der kurdischen Freiheitsbewegung einen umfassenden und dauerhaften Stopp von Rüstungsexporten und Wirtschaftshilfen an die Türkei sowie Unterstützung beim Wiederaufbau der medizinischen Infrastruktur in Nordsyrien. Die Bundesregierung wird aufgerufen, sich der Beurteilung durch den belgischen Kassationsgerichtshof anzuschließen, wonach die kurdische Arbeiterpartei PKK keine „terroristische Organisation”, sondern eine Partei in einem bewaffneten Konflikt ist. Die Unterzeichnenden des offenen Briefes wünschen sich zudem einen angemessenen Gedenkort, an dem der getöteten Freiwilligen und ihrem „anerkennenswerten Einsatz“ gedacht werden kann.
Der vollständige Brief mit dem Titel „Schluss mit türkischen Kriegsverbrechen!“ lautet:
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,
unsere Töchter und Söhne engagierten sich freiwillig, damit Frauen, Männer und Kinder in demokratisch geprägten Gemeinwesen, mit geachteten Menschenrechten kurz: in einer gerechteren Welt, leben können.
Unsere Kinder brachten dafür das größte Opfer: ihr Leben.
Unsere Kinder – das sind:
Uta Schneiderbanger, verunglückt am 31. Mai 2005 in Qeladize, nahe dem Flüchtlingslager Mexmûr,
Ivana Hoffmann, getötet vom IS am 7. März 2015 in Til Temir/Rojava,
Jakob Riemer, getötet am 9. Juli 2018 durch die türkische Armee in Çarçella/Nordkurdistan,
Michael Panser, getötet am 14. Dezember 2018 bei einem türkischen Bombardement der in Südkurdistan (Nordirak) gelegenen Medya-Verteidigungsgebiete,
Konstantin Gedig, getötet während des völkerrechtswidrigen Angriffs am 16. Oktober 2019 durch türkisches Bombardement bei der Evakuierung eines Hospitals in Serêkaniyê/Rojava.
Unsere Kinder starben an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten. Die meisten kannten sich nicht. Aber sie einte das gemeinsame Anliegen, die Menschen in Kurdistan (Rojava in Nordsyrien und Regionen beiderseits der türkisch/nordirakischen und iranischen Grenze) unabhängig, ob Kurden, Araber, Aramäer, Iraker, Iraner, Türken und andere Volksgruppen zu schützen und sie zu unterstützen in ihrem Streben auf ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Sicherheit.
* Vor allem für die Frauen dieser Region bedeutet das: umfassende gleichberechtigte Teilhabe;
* für alle Religionsgemeinschaften: freie Religionsausübung;
* für alle unterschiedlichen Ethnien: basisdemokratische Mitbestimmung und politische Partizipation;
* für alle Menschen im gesellschaftlichen Miteinander: Demokratie, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit.
Ist Ihnen, sehr geehrte Frau Dr. Merkel, bekannt, dass z.B. in Rojava die Todesstrafe nicht Bestandteil des Strafrechts ist, trotz der Verbrechen des Islamischen Staates?
Stellen Sie sich bitte vor:
Deutschland verböte seit Jahrzehnten z.B. den Sorben, den Südschleswigern, den Norddeutschen, den Roma:
* das Sprechen in ihren Sprachen Sorbisch, Niederdeutsch, Friesisch, Romani,
* in ihrer Schriftsprache zu schreiben und sie zu lernen,
* das Tragen ihrer traditionellen Kleidung,
* eigene Schulen,
* den eigenen Kindern Vornamen in der eigenen Sprache zu geben,
* identitätsstiftende Feier- und Gedenktage und
* jegliche Aktivitäten zur Pflege und zum Leben der eigenen kulturellen Identität und der politischen Teilhabe.
Stellen Sie sich bitte weiter vor:
Der deutsche Staat verfolgte jeden Menschen, seine Familie und sein soziales Umfeld, der gegen die beschriebenen Verbote verstößt, weil er in Freiheit seine kulturelle Identität leben möchte.
Verfolgung bedeutete dabei: Die Menschen würden misshandelt, verhaftet, entführt, vergewaltigt, gefoltert, getötet. Selbst die Friedhöfe würden geschändet und Straftaten nicht verfolgt, sondern vom Staat unterstützt. Die Minderheiten würden in Gänze diskriminiert und deren Gemeinwesen zerstört, indem Städte und Dörfer abgerissen werden und Nachbarschaften vertrieben werden.
Der eben beschriebene Horror ist für Kurdinnen und Kurden und andere Volksgruppen in weiten Teilen Kurdistans, vor allem auf türkischem Staatsgebiet, seit Jahrzehnten Lebenswirklichkeit. Mit dem Wachsen des Islamischen Staates in Syrien bis Oktober 2017 sowie den völkerrechtswidrigen Angriffen der Türkei auch wieder in Rojava.
Wir haben unseren Kindern Werte wie Mitgefühl, Fairness, Respekt, Gerechtigkeit, Verantwortung und Wahrhaftigkeit vermittelt.
Unsere Söhne und Töchter sahen nicht gleichgültig und desinteressiert zu, wie Daesh, die Türkei und von ihr gekaufte Dschihadistensöldner schutzlose Menschen vertrieben, folterten und töteten, zuletzt mit der anhaltenden und völkerrechtswidrigen Invasion von Rojava und dem Bombardement des Shingal-Gebirges und des Nordiraks.
Sie leisteten Hilfe und kamen dabei zu Tode.
Wir Eltern bitten Sie, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, um Ihre Hilfe und Unterstützung für einen
* öffentlichen und angemessenen Gedenkort, an dem wir Eltern, Angehörige, Freunde und jede/r Bürger*in den getöteten Freiwilligen und dem anerkennenswerten Einsatz unserer Kinder gedenken können.“
Wir schreiben Ihnen aber auch, weil wir nicht noch mehr zerstörte Familien mit leidenden Müttern und Vätern, traurigen Brüdern, Schwestern und Großeltern sehen wollen. Deshalb appellieren wir an Sie:
* Verfügen Sie endlich einen sofortigen, umfassenden und dauerhaften Waffenlieferstopp für die Türkei (ohne Wartungsverträge, versteckte Klauseln und Hintertürchen).
* Frieren Sie alle Wirtschafts- und Finanzhilfen sowie die Zollunion ein, wenn sie für den Machterhalt der Regierung Erdogan/AKP/MHP bestimmt sind und nicht der direkten humanitären Hilfe des türkischen Volkes dienen.
* Unterstützen Sie alle NGOs, z.B. Medico International und den Kurdischen Roten Halbmond, damit diese die zerstörte, dringend benötigte medizinische Infrastruktur wiederaufbauen und die Corona-Nothilfe unterstützen können!
* Koppeln Sie alle Importe aus der Türkei nach Deutschland, Arbeitserlaubnisse für türkische Staatsbedienstete, die nicht notwendig zum Diplomatischen Personal gehören, z.B. DITIB-Imame, direkt an die Einhaltung des Völkerrechtes durch den türkischen Staat! Bruch des Völkerrechts = Sanktionen!
* Schließen Sie sich der Beurteilung durch das höchste belgische Gericht (Kassationsgerichtshof) in seinem aktuellen Urteil (siehe Anlagen) an. Darin heißt es, der kurdische Widerstand gegen die eben beschriebene anhaltende Menschenrechtsmissachtung durch den türkischen Staat sei nicht als Terror, sondern als legitime Selbstverteidigung und die PKK als Konfliktpartei zu bewerten. Es wird Zeit, dass auch Deutschland den Weg aus den 90er Jahren und zu einem aktualisierten, zeitgemäßen Urteil findet.
Wir freuen uns auf Ihre schnelle Antwort.
Anne und Konrad Schneiderbanger
Michaela Hofmann-Umeh
Katharina Riemer
Hans-Ulrich Panser
Ute Ruß und Thomas Gedig