Die ängstliche AKP-Riege unter Federführung des Autokraten Erdoğan versucht sich derzeit wieder an einem Unterfangen, dessen Sinnlosigkeit sie spätestens nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im vergangenen Juni eingesehen haben müsste - könnte man meinen. Doch an der Taktik Erdoğans hat sich auch nach Jahren nichts geändert, der gekränkte Mann am Bosporus hält an seinen Traditionen fest. Seit Dienstag rollt in vielen Städten der Türkei und Nordkurdistans wieder eine Welle der Repression, die es auf den wichtigsten politischen Feind des AKP-Chefs abgesehen hat: Die kurdische Opposition. Gegen mindestens 151 Aktivisten, Politiker und Journalisten liegt eine Anordnung zur Festnahme vor. Fast 100 Personen, unter ihnen zahlreiche Spitzenfunktionäre der HDP und DBP sowie Dutzende Mitglieder des Demokratischen Gesellschaftskongress DTK befinden sich bereits in Polizeigewahrsam.
Grund für die Operation: „Anonymer Hinweis“
Im Rahmen der „Säuberungswelle“, die sich laut türkischen Behördenangaben auf eine „anonyme Anzeige einer einzelnen Person“ stützen soll, die sich von demokratisch-politischen und journalistischen Aktivitäten „gestört fühle“, wurden nach bisherigem Stand 183 Wohnungen in Amed (Diyarbakir), Wan (Van), Şirnex (Şırnak), Riha (Urfa), Êlih (Batman), Mêrdîn (Mardin), Mersin, Adana und Istanbul von Sondereinsatzkommandos und der Polizei gestürmt, durchsucht und verwüstet, Tendenz steigend. Wie der Anwalt Resul Tamur gestern nach einem Mandantenbesuch in der Bezirkspolizeidirektion Diyarbakir berichtete, ginge es in der anonymen Anzeige um „geheime Treffen“. Namen von Personen, die an „diversen organisatorischen Treffen in zahlreichen Wohnungen teilgenommen“ haben sollen, tauchen darin allerdings nicht auf. Die Liste mit den Identitäten von 151 gesuchten Personen muss der Polizei zufällig in die Hände gefallen sein.
Acht Journalisten in Gewahrsam
Unter den festgenommenen Medienschaffenden befindet sich neben Semiha Alankuş, Kibriye Evren, Esra Solin Dal, Lezgin Akdeniz, Cihan Ölmez, Savaş Aslan und Hayat Özmez auch der Journalist Abdurrahman Gök. Dank seines Einsatzes erfuhr die Öffentlichkeit, dass es sich beim Tod des jungen Kunststudenten Kemal Kurkut, der im letzten Jahr am Rande der Newroz-Feierlichkeiten in Amed von einem Polizisten erschossen worden war, in Wahrheit um vorsätzlichen Mord handelte. Gök hatte acht Mal auf den Auslöser seiner Kamera gedrückt und dokumentiert, dass die offizielle Version, wonach Kurkut ein „Selbstmordattentäter“ gewesen sei, eine weitere menschenverachtende Unwahrheit des AKP-Apparats darstellte.
Was erhoffen sich AKP und Erdoğan? Erfolg bei den Wahlen
Im Frühjahr sollen in der Türkei und den kurdischen Regionen Kommunalwahlen stattfinden. Zwar sind die Wahlen für März angesetzt, Staatschef Erdoğan hat aber bereits versucht, den Termin auf November vorzuziehen. Bisher scheiterte dieser Plan am Verbündeten Devlet Bahçeli. Der Vorsitzende der ultranationalistischen MHP ließ sich nicht, oder besser gesagt, noch nicht überzeugen. Ohne As im Ärmel nennt man sich nicht Autokrat, mag sich Erdoğan daraufhin möglicherweise gedacht haben, als er vor wenigen Tagen einen Putsch zu den Kommunalwahlen ankündigte und damit die Legitimität der Wahlen bereits jetzt in Frage stellte. Konkret sagte er: „Wenn wieder diese Terror-infizierten Personen aus der Wahlurne hervorgehen sollten, werden wir ohne Zögern das Notwendige tun und Treuhänder einsetzen“. Die kommunalen Budgets hatte Erdoğan per Dekret schon Anfang August dem Staat unterstellt – und damit die regionale Autonomie de facto abgeschafft. Von den ursprünglich 104 demokratisch gewählten Lokalverwaltungen in den kurdischen Gebieten sind bereits 97 Kommunen unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt worden.
Wer sind die „Terrorkranken“?
Jetzt stellt sich noch die Frage, wer die „Terrorkranken“ in den Stadt- und Gemeindeverwaltungen in den kurdischen Städten sind. Natürlich sind es die Komponenten und Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und der Partei der demokratischen Regionen (DBP) und somit die linke Alternative für alle Bevölkerungsgruppen im Land. Denn beide Parteien sprechen nicht nur für die Kurden, sondern bemühen sich mit all ihren Kräften, eine Interessenvertretung für Türken und Muslime, Minderheiten wie Aleviten, Eziden und Christen, Armenier, Roma, LGBTI und all die anderen Unterdrückten zu sein. Sie kämpfen für Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Vielfalt und die Gleichstellung der Geschlechter. Bis hinunter zur Gemeindeebene teilen ihre Vertreter die Ämter unter Frauen und Männern auf. Zuviel des Guten für den Despoten am Bosporus.