Kobanê-Verfahren: Gericht lehnt Haftbeschwerden ab

Ein Gericht in Ankara hat die Haftbeschwerde von siebzehn HDP-Politiker*innen im sogenannten Kobanê-Verfahren abgelehnt.

Die Anfang Oktober im sogenannten „Kobanê-Verfahren“ verhafteten HDP-Mitglieder bleiben vorerst im Gefängnis. Ein Gericht in Ankara hat am Freitag die Haftbeschwerden abgelehnt, teilte der Rechtsbeistand der Betroffenen mit. Die siebzehn Politikerinnen und Politiker, allesamt hochrangige Vertreter*innen der Demokratischen Partei der Völker (HDP), darunter auch ehemalige Abgeordnete und Bürgermeister*innen, waren am Freitag vor drei Wochen bei landesweiten Polizeioperationen festgenommen worden. Hintergrund ist ihre vermeintliche Beteiligung an Demonstrationen im Oktober 2014, als die HDP anlässlich des IS-Angriffs auf die Stadt Kobanê in Westkurdistan/Nordsyrien auch gegen die Unterstützung der türkischen Regierung für die dschihadistische Terrormiliz protestierte.

Nach den Verhaftungen am 2. Oktober legten die Anwält*innen der Politiker*innen Haftbeschwerden bei der 4. Strafabteilung des Amtsgerichts Ankara ein. Diese lehnte ab und leitete die Anträge weiter an die 5. Strafabteilung am selben Gericht, die die Haftbeschwerden nun ebenfalls verworfen hat. Begründet wurde die Entscheidung in erster Linie mit Fluchtgefahr, die durch Meldeauflagen nicht verhindert werden könne.

Nach Auffassung der Behörde sei aufgrund der hohen Straferwartung, „konkreten Beweisen“ – gemeint sind unter anderem Beiträge der Angeklagten in den sozialen Medien, E-Mail-Verkehr, vermeintliche Zeugenaussagen – ein „Anreiz” gegeben, der die Annahme nahelege, dass sich die Beschuldigten dem Verfahren durch Flucht entziehen würden. Zudem seien die Beweisaufnahme im Allgemeinen und die Befragung von Beschuldigten, die verdächtigt werden, Kontakte zur „Terrororganisation“ (gemeint ist die PKK) zu pflegen, noch nicht abgeschlossen. Das Gericht gehe vom dringenden Verdacht der versuchten Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates, Mord und Körperverletzung in mehreren Fällen, Plünderung, Anstachelung zur Gewalt und Freiheitsberaubung aus.

Die Haftbefehle waren gegen den Bürgermeister von Qers, Ayhan Bilgen, Politökonom Alp Altınörs vom HDP-Exekutivrat, den langjährigen außenpolitischen Sprecher Nazmi Gür, die ehemaligen Parlamentarierinnen Ayla Akat Ata und Emine Ayna, die früheren Exekutivratsmitglieder Bircan Yorulmaz, Berfin Özgü Köse, Dilek Yağlı, Can Memiş, Günay Kubilay, Bülent Parmaksız, Pervin Oduncu, İsmail Şengün und Cihan Erdal, den ehemaligen HDP-Schatzmeister Zeki Çelik, den früheren stellvertretende HDP-Vorsitzende Ali Ürküt und die Umweltingenieurin und frühere Abgeordnete Emine Beyza Üstün angeordnet worden.  Bereits die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş waren wegen demselben Vorwurf verhaftet worden.

Die Kobanê-Proteste vom Herbst 2014

Am Abend des 6. Oktober 2014 war es der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) nach 21 Tagen Widerstand der Verteidigungseinheiten YPG/YPJ sowie der Bevölkerung von Kobanê gelungen, ins Zentrum der westkurdischen Stadt einzudringen. Angesichts der kritischen Situation hatte die HDP die Öffentlichkeit zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufgerufen, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete.

Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstranten. Die Zahl der dabei getöteten Personen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen.

Parlament lehnt HDP-Antrag auf U-Ausschuss ab

Am Donnerstag hat das türkische Parlament einen Antrag der HDP auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Aufklärung der Kobanê-Proteste abgelehnt. Gegen den Antrag stimmten die Abgeordneten von der islamistisch-konservativen Regierungspartei AKP und dem ultranationalistischen Koalitionspartner MHP. Damit rückt die lückenlose Aufarbeitung der sogenannten „Kobanê-Unruhen“ auf politischer und juristischer Ebene weiter in die Ferne.