Am 19. August hat die türkische Regierung die bei den Kommunalwahlen am 31. März demokratisch gewählten Oberbürgermeister*innen der Großstädte Wan (Van), Mêrdîn (Mardin) und Amed (Diyarbakir) abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt. Die Begründung geht auf eine altbekannte Strategie zurück: Den kurdischen Politiker*innen wird Terrorunterstützung unterstellt. Unter anderem werden sie beschuldigt, mit dem System der genderparitätischen Doppelspitze bei der HDP, wonach jeweils ein Mann und eine Frau das Bürgermeisteramt gemeinsam ausüben, auf Anordnung der Arbeiterpartei Kurdistans PKK eine nicht verfassungsmäßige politische Struktur eingeführt zu haben, die nicht mit den offiziellen politischen Regeln und Vorschriften zu vereinbaren sei.
Besondere Empörung hat dieses Vorgehen in Karlsruhe ausgelöst, der Projektpartnerstadt von Wan. Die Stadt Karlsruhe wird ihrem Missfallen über die Absetzung von Bedia Özgökçe Ertan als Oberbürgermeisterin von Wan jetzt in einem Brief an den Botschafter der Türkei Ausdruck verleihen. Der in Karlsruhe ansässige Generalkonsul hat auf ein Schreiben vom 20. August bis heute nicht geantwortet, so der Karlsruher Oberbürgermeister Frank Mentrup.
Im Gemeinderat erntete die Stadtverwaltung für ihr Vorgehen breite Zustimmung. Mit deutlichen Worten verurteilten die Räte parteiübergreifend, dass Wan seit dem 19. August unter Zwangsverwaltung steht. Mentrup verwies darauf, dass das Thema im Bewusstsein der Menschen gehalten werden muss. Dafür stehe man auch im engen Austausch. Einerseits mit München und Hannover, die Verbindungen in die ebenso betroffenen Städte Mêrdîn und Amed haben, andererseits mit Bedia Özgökçe Ertan selbst. „Keiner soll das, was dort passiert, für einen Normalzustand halten“, sagte Mentrup.
Vorgeschichte der Projektpartnerschaft zwischen Karlsruhe und Wan
Im September 2015 beschloss der Karlsruher Gemeinderat, mit Wan eine Projektpartnerschaft einzugehen. Im August 2016 reiste eine Delegation aus Wan unter der Leitung der damaligen Oberbürgermeister*innen Bekir Kaya und Hatice Çoban nach Karlsruhe und unterzeichnete die entsprechende Partnerschaftsvereinbarung.
Im November 2016 wurden beide Oberbürgermeister abgesetzt und die Stadt unter Zwangsverwaltung gestellt. Bekir Kaya wurde verhaftet und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Oberbürgermeister Dr. Frank Mentup wandte sich in einem Schreiben an den Generalkonsul der Republik Türkei in Karlsruhe, Cem Örnekol, und brachte seine Besorgnis über die Entwicklungen in der Türkei sowie seinen Wunsch nach einer Rückkehr zu Demokratie, Rechtsklarheit und Meinungsfreiheit und gleichzeitig weniger Beschränkungen für die Bürgerinnen und Bürger zum Ausdruck.
Am 31. März 2019 fanden in der Türkei Kommunalwahlen statt und das Spitzenkandidatenduo der HDP (Halkların Demokratik Partisi), Bedia Özgökçe Ertan und Mustafa Avcı, wurden ins Oberbürgermeisteramt der Stadt Wan gewählt. In einem Schreiben vom 9. April 2019 gratulierte Oberbürgermeister Dr. Frank Mentrup den neuen Amtskollegen sehr herzlich und sprach eine Einladung nach Karlsruhe aus. Im Juli 2019 reiste Oberbürgermeisterin Bedia Özgökçe Ertan in Begleitung von Leyla İmret (ehemalige Bürgermeisterin von Cizîr und Vorsitzende der HDP in Deutschland) zu Gesprächen nach Karlsruhe. Es wurde vereinbart, zeitnah Bereiche für Kooperationen auf fachlicher Ebene zu definieren und die Zivilgesellschaften aus Karlsruhe und Wan zusammen zu bringen.
Unter dem Vorwurf der Terrorunterstützung/Terrorpropaganda verfügte das Innenministerium der Republik Türkei am 19. August 2019 die Amtsenthebung der Oberbürgermeister von Wan, Amed und Mêrdîn und unterstellte die Stadtverwaltungen den Gouverneuren der Provinzen. Zeitgleich wurden weitere 418 Personen ihrer Ämter enthoben, teilweise auch verhaftet.
Am 20. August 2019 wandte sich Oberbürgermeister Mentrup in einem Schreiben an den Generalkonsul der Republik Türkei in Karlsruhe, Nevzat Arslan. Er verwies darauf, dass im November 2016 bereits die demokratisch gewählten Oberbürgermeister*innen Bekir Kaya und Hatice Çoban abgesetzt worden seien und betonte, dass ihn die wiederholte Amtsenthebung seiner Kolleginnen und Kollegen in Wan sowie die allgemeine Entwicklung in der Türkei mit großer Sorge erfülle. Als Oberbürgermeister der „Residenz des Rechts“ habe er eine besondere Verantwortung für den Schutz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und lehne jegliche Einschränkung im Leben der Menschen ab. In einem zweiten Schreiben appellierte Mentrup an Bundesaußenminister Heiko Maas, seine große Besorgnis über die aktuellen Entwicklungen in Wan und im Südosten der Türkei an die entsprechenden Stellen in der türkischen Regierung weiterzuleiten und sich für die demokratisch gewählten Oberbürgermeister der Partnerstadt sowie eine Rückkehr zu rechtsstaatlichen Abläufen einzusetzen.
Das Antwortschreiben des Auswärtigen Amts in Berlin erfolgte am 2. September 2019. Die Beauftragte für Südosteuropa, die Türkei und EFTA-Staaten, Susanne Schütz, teilte mit, dass gegen Oberbürgermeisterin Bedia Özgökçe Ertan ein Ermittlungsverfahren wegen angeblicher Unterstützung des Terrorismus eingeleitet worden seien. Nach geltendem türkischem Recht reiche die Einleitung solcher Ermittlungsverfahren bereits für eine Amtsenthebung. Darüber hinaus verwies Susanne Schütz auf eine Stellungnahme der Europäischen Union vom 19. August 2019, in der die Ereignisse in der Türkei als ernste Gefahr für die kommunale Demokratie bezeichnet würden. Das Auswärtige Amt unterstütze diese Erklärung und habe dies auch in der Bundespressekonferenz am 21. August 2019 deutlich zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus sei die Türkei wiederholt aufgefordert worden, rechtsstaatliche Standards einzuhalten.
Nach mehreren Versuchen einer direkten Kontaktaufnahme mit Bedia Özgökçe Ertan durch das Hauptamt fand am 29. August 2019 ein Telefonat statt. Im Namen von Oberbürgermeister Dr. Frank Mentrup und der Stadt Karlsruhe wurde Bedia Özgökçe Ertan über die Aktivitäten der Stadt Karlsruhe informiert. Bedia Özgökçe Ertan bedankte sich und betonte, wie wichtig diese Unterstützung für sie und die Menschen in Wan und in den kurdischen Städten sei. Sie bat die demokratische Welt darum, Partei für die Unterdrückten in der Türkei zu ergreifen und sich klar gegen das Vorgehen der türkischen Regierung zu positionieren.
In ihrer Sitzung am 23. September 2019 äußerten die Mitglieder des Ältestenrats und Oberbürgermeister Dr. Frank Mentrup ihre Besorgnis über die undemokratischen Entwicklungen in der Türkei. Mentrup regte daraufhin an, den Gemeinderat über die Situation in der türkischen Projektpartnerstadt sowie die Aktivitäten der Verwaltung zu informieren und ein entsprechendes Schreiben an den Botschafter der Republik Türkei in Berlin durch die Verwaltung vorzuschlagen.