Karamus: „Es besteht akute Lebensgefahr“

Der KNK-Vorsitzende Ahmet Karamus berichtet von der Lage an der polnisch-belarussischen Grenze und warnt vor akuter Lebensgefahr für die Schutzsuchenden.

Eine Delegation vom Nationalkongress Kurdistan (KNK) ist in das Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus gereist. Im ANF-Interview berichtet der Ko-Vorsitzende Ahmet Karamus über die Situation an der Grenze und die Ursachen für die Flucht vieler Kurd:innen. Er appelliert an die Menschen in Südkurdistan: „Wir verstehen eure Gründe, aber der Feind nutzt diese Situation für seinen Vorteil. Er will die Demografie in Kurdistan ändern.“

Welche Beobachtungen haben Sie an der polnisch-belarussischen Grenze gemacht?

Leider hatten wir keine Möglichkeit, die Schutzsuchenden selbst zu treffen und mit ihnen zu reden. Es ist eine 150 Kilometer lange und zehn Kilometer breite Pufferzone an der polnischen Grenze geschaffen worden, eine rote Zone. Dort sind etwa 15.000 Soldaten und Polizisten im Einsatz. Es gibt physische Barrieren an der Grenze wie Klingendrähte. Es gibt für niemanden, weder für die Flüchtlinge noch für die, die die mit ihnen Kontakt aufnehmen wollen, die Möglichkeit durchzukommen. Kleine Organisationen leisten sporadisch auf unterschiedliche Weise Hilfe, aber diese Hilfeleistungen decken nicht einmal fünf Prozent des Bedarfs.

Wie viele Schutzsuchende werden in der „Pufferzone“ festgehalten, von der Sie sprechen? Hatten Sie die Gelegenheit, mit Menschen aus Südkurdistan in Kontakt zu treten? Was waren ihre Forderungen?

Nach den Informationen, die wir erhalten haben, liegt ihre Zahl zwischen 5.000 und 6.000. An diesem Punkt arbeiten wir, wir wollen sie sehen. Die Rede ist von 3.000 bis 4.000 Kurd:innen aus Başûrê Kurdistanê [Südkurdistan]. Die Mehrheit sind junge Menschen, es sind Kinder und Frauen dabei. Die Gründe für ihre Flucht liegen auf der Hand. Es sind politische und ökonomische Ursachen. Es geht um Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit. Sie sind mit der Situation von Başûrê Kurdistanê nicht zufrieden und sagen immer wieder, dass sie dort nicht leben können. Wir haben uns Videos angeschaut und die Perspektiven, die wir erfahren konnten, aufgenommen. Die Menschen sehen keine Zukunft in Başûrê Kurdistanê. Sie gehen weg und bringen sich in Gefahr, um sich woanders niederlassen zu können.

Haben Sie Gespräche geführt mit den Militärs und Polizeibeamten, die die Grenze belagern?

Natürlich haben wir versucht, mit den Sicherheitskräften an der Grenze zu sprechen. Sie sagten uns immer wieder: „Es ist die Entscheidung der Regierung, des Staates. Wir werden in keiner Weise erlauben, dass Sie an die Grenze gehen und mit den Menschen dort sprechen.“ Die polnische Regierung hat bereits die Versorgung mit Hilfsgütern verboten. Wir setzen unsere Versuche fort, uns mit regierungsnahen Institutionen zu treffen. KNK-Europa hat auch versucht, sich mit den Zuständigen des Europäischen Parlaments und dem Kommissar für Flüchtlingsangelegenheiten zu treffen.

Immer wieder erreichen uns Berichte über Todesfälle durch Hunger und Kälte. Wie ist die aktuelle Situation und was unternehmen Sie in dieser Hinsicht?

Unsere Delegation ist in Warschau. Wir treffen uns im Moment mit Menschenrechtsorganisationen und -institutionen. Wir würden gerne einige polnische Abgeordnete treffen und sie über die Situation der Flüchtlinge informieren. Wir haben Initiativen über Heyva Sor a Kurdistanê und andere Wege gestartet, damit die Schutzsuchenden Hilfe erreicht. Bisher wissen wir von zwölf Toten. Zuletzt haben wir gehört, dass eine schwangere Frau aufgrund von Kälte und Hunger krank geworden ist. Hilfsorganisationen gelang es mit massivem Druck, sie in ein Krankenhaus in Polen zu bringen. Der Embryo in ihrem Bauch ist tot, die Frau liegt im Koma. Sie schwebt in Lebensgefahr. Das ist die aktuelle Lage.

Wer ist für diese Lage verantwortlich?

Die Migrant:innen kommen, wie jeder weiß, über die Türkei und Bagdad. Belarus und die Türkei spielen dabei die größte Rolle. Vielleicht haben sie ein gemeinsames Interesse, oder jeder hat seine eigenen Interessen. Der belarussische Staatschef will Druck auf die Europäische Union ausüben. Erdoğan und der faschistische türkische Staat wollen auf diese Weise ebenfalls Druck auf die EU aufbauen und Kurdistan entvölkern. In Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî ist die demografische Struktur bereits verändert worden. In Südkurdistan werden das gleiche Konzept und die gleiche Methode angewandt. Der türkische Staat will dort Söldnergruppen und ihre Familien ansiedeln, Leute vom IS, Jabhat al-Nusra und andere.

Die Regierung in Başûrê Kurdistanê beschuldigt alle anderen, sogar die Geflüchteten. Wie sehen Sie das?

Wir hören die Rhetorik und Erklärungen einiger Regierungsvertreter in Basûrê Kurdistanê. Sie geben den Geflüchteten die Schuld. Es ist sehr traurig. Wir akzeptieren das in keiner Weise. Wir müssen gemeinsam auf die Schutzsuchenden zugehen und sie aus dieser Gefahr retten. Wir sehen keinen Nutzen in den Erklärungen der Regierungsvertreter von Basûrê Kurdistan. Darin liegt keine Wahrheit. Sie machen die Geflüchteten dafür verantwortlich. Diejenigen, die die Menschen zur Flucht zwingen, nehmen die Schuld nicht auf sich. Das ist die Schuld der Behörden von Basûrê Kurdistanê. Sie sorgen dafür, dass ihre Bürger:innen fliehen müssen.

Haben Sie irgendwelche Appelle in Hinsicht auf Flucht und Migration?

Wir hoffen, dass niemand seine Heimat, sein Dorf, sein Land verlässt. Als KNK rufen wir die kurdische Jugend auf: Führt eure Gesellschaft in die Zukunft. Verlasst euer Land nicht und sucht euer Heil nicht in der Flucht. Erschafft eure Zukunft mit euren eigenen Händen, indem ihr auf eurem eigenen Land kämpft und arbeitet. Die Menschen in Kurdistan sollten auch wissen, dass hier große Lebensgefahr herrscht. Wir haben die Notlage der Flüchtlinge hautnah miterlebt. Es herrscht eine chaotische und gefährliche Situation. Macht euch nicht zum Mittel des Konzepts des Feindes. Wir verstehen eure Gründe, aber der Feind nutzt diese Situation für seinen Vorteil. Er will die Demografie in Kurdistan verändern.