Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat Zweifel daran, dass die türkischen Operationen gegen Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Nordirak (Südkurdistan) mit dem Völkerrecht vereinbar sind. Gegenwärtig lasse sich kein bewaffneter Angriff seitens der PKK und damit auch keine Selbstverteidigungslage für die Türkei erkennen, die den Verstoß gegen das Gewaltverbot gegenüber dem Irak rechtfertigen könnte, heißt es in dem Bericht vom Mittwoch, der ANF vorliegt.
Die Türkei führt seit Mitte Juni unter dem Vorwand der PKK-Präsenz die Boden- und Luftinvasionen „Adlerkralle” und „Tigerkralle” in der kurdischen Autonomieregion im Norden des Iraks durch und beruft sich dabei auf das Recht auf Selbstverteidigung. Das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta ist aber nur dann gegeben, wenn ein bewaffneter Angriff vorliegt. „Dieser muss entweder bereits andauern oder jedenfalls unmittelbar bevorstehen, um das Selbstverteidigungsrecht auszulösen. Insoweit ist festzustellen, dass die Intensität der PKK-Angriffe auf die Türkei nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen, also seit 2016-2017, deutlich abgenommen hat”, heißt es im Bericht des wissenschaftlichen Dienstes. Ein gegenwärtiger oder unmittelbar bevorstehender bewaffneter Angriff seitens der PKK könne auch unter der Heranziehung der sogenannten „accumulation of events-Doktrin“ nicht konstruiert werden. „Diese besagt, dass sich mehrere kleinere Angriffe zu einer Angriffsserie kumulieren und dadurch die Schwelle des bewaffneten Angriffes überschreiten können. Gerade weil die Intensität der PKK-Angriffe auf die Türkei in den letzten Jahren deutlich abgenommen hat, lässt sich von einem gegenwärtigen bewaffneten Angriff im Sinne des Art. 51 der UN-Charta nicht ohne weiteres sprechen.”
Angesichts der Standorte der türkischen Stützpunkte auf besetzten Gipfeln in den nördlichen Bergregionen Südkurdistans sind die Grenzlinien des Misak-ı Millî klar zu erkennen. Dieser Nationalpakt sollte in den Verhandlungen mit den Siegermächten über das Osmanische Reich die neuen Grenzen des türkischen Staates nach dem Ersten Weltkrieg markieren - zum türkischen Territorium sollten neben Batumi und Thrakien auch die alten Provinzen Mossul (die heutige Autonomieregion Kurdistan bis nach Silêmanî an der iranischen Grenze) und Aleppo (neben der Region Aleppo das gesamte Rojava/Nord- und Ostsyrien) gehören. Die Regierung in Ankara verheimtlicht ohnehin nicht, im türkisch-irakischen Grenzgebiet eine 35 bis 40 Kilometer breite „Pufferzone“ errichten zu wollen. Ähnlich wie in Nordsyrien ist die PKK wieder nur eine Ausrede, fremdes Territorium an das eigene Staatsgebiet anzugliedern. Bei den Luftangriffen werden neben vermuteten Stellungen der Guerilla auch zivile Siedlungsgebiete bombardiert. So waren zu Beginn der Invasion in der Nacht zum 15. Juni das Flüchtlingslager Mexmûr südwestlich von Hewlêr (Erbil) und das ezidische Siedlungsgebiet Şengal von Kampfflugzeugen bombardiert worden. Nahe Silêmanî wurde ein Freizeitgebiet angegriffen, allein fünf Zivilisten starben am 19. Juni bei Luftangriffen im Gouvernement Dihok. Anfang der Woche wies die European Syriac Union zudem darauf hin, dass bereits über dreißig christliche Dörfer in der Region entvölkert worden sind.
Wissenschaftlicher Dienst: Türkei bleibt Erläuterung schuldig
Der wissenschaftliche Dienst unterstreicht in dem Bericht, dass die Türkei ihre Absicht, ihre jüngsten „militärischen Operationen“ im Nordirak durchzuführen, nicht sofort dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angezeigt hat, wie das die UN-Charta (Art. 51 Satz 2) verlangt. Die fehlende Begründung des Vorliegens eines bewaffneten Angriffes seitens der PKK sei damit ein „gewichtiges Indiz”, dass das Selbstverteidigungsrecht der Türkei gegenwärtig nicht gegeben sei.
Handlungsmöglichkeiten Deutschlands auf UN- und NATO-Ebene
In dem Bericht werden verschiedene Handlungsmöglichkeiten dargestellt, welche Wege die Bundesregierung einschlagen kann, um gegen den offensichtlich völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Türkei im Nordirak zu handeln. So könnte Deutschland auf UN-Ebene als nichtständiges Mitglied und derzeitiger Inhaber des Vorsitzes des UN-Sicherheitsrates eine Dringlichkeitssitzung beantragen und das türkische Vorgehen im Nordirak „als nicht völkerrechtskonform monieren”, um gegebenenfalls eine entsprechende Resolution bzw. zumindest eine Erklärung des Sicherheitsrates zu erwirken. Ob dies gelingt, hänge maßgeblich von dem Verhalten der Veto-Mächte ab. „Auch wenn keine formelle gemeinsame Erklärung des UN-Sicherheitsrates verabschiedet werden sollte, so könnte die Türkei dadurch zumindest gezwungen werden, sich offiziell gegenüber den Vereinten Nationen zu ihrem Vorgehen in Nordirak zu positionieren. Sollten auch nach einer solchen Erklärung nicht genügend Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Selbstverteidigungslage der Türkei vorliegen, so wäre auch eine klare Benennung eines Verstoßes gegen das Völkerrecht durch möglichst viele Staaten für sich genommen bedeutend”, so der wissenschaftliche Dienst. Als Beispiel könnte das Vorgehen Frankreichs nach der türkischen Invasion „Olivenzweig“ in Nordsyrien im Januar 2018 dienen. Frankreich hatte damals eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates beantragt und dabei einen umfassenden Waffenstillstand und einen bedingungslosen Zugang für humanitäre Hilfe gefordert.
Beratungsmechanismus für den Fall
Auch auf NATO-Ebene gäbe es Handlungsmöglichkeiten für Deutschland, gegen die Angriffe der Türkei im Nordirak zu agieren. Im Artikel 4 des Nordatlantikvertrages ist ein Beratungsmechanismus für den Fall vorgesehen. „Der Wortlaut des Art. 4 des NATO-Statutes ist dabei weit gefasst, sodass solche Beratungen nicht nur von dem bedrohten Staat selbst, sondern von irgendeinem Mitgliedsstaat, also auch von Deutschland, initiiert werden können. Auch diese internationale Bühne könnte Deutschland nutzen, um auf eine förmliche Erklärung der Türkei zu den Militäroperationen gegen die PKK in Nordirak herbeizuführen.”
Die wissenschaftlichen Dienste des Bundestags unterstützen die Abgeordneten mit ihrer Expertise. Ihre Gutachten geben aber nicht die Auffassung des Bundestags wieder.