Aktivistinnen von Women Defend Rojava haben auf einer Vortragstour in Deutschland von ihrem Aufenthalt in Nordkurdistan zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai in der Türkei berichtet. Auf Einladung der Grünen Linkspartei (YSP), die aufgrund der Repression anstelle der HDP zu den Wahlen antrat, im Nachgang mehrmals umbenannt werden musste und heute als DEM Parti 57 Abgeordnete im Parlament stellt, begleiteten die Aktivistinnen aus Deutschland mehrere Wochen den Wahlkampf.
Veranstaltungen in sieben Städten
Auf der Reise von Halle bis nach Lübeck durch den Osten, Westen und Norden Deutschlands fanden insgesamt in sieben Städten Veranstaltungen statt. Während der Vorträge wurde sich auf die Aktualität der Konsequenzen der Wahlen bezogen und direkte Verbindungen zu der Situation weltweit und auch in Deutschland erörtert. Die tiefe Verankerung des Widerstands innerhalb der kurdischen Bevölkerung wurde anhand der Geschichte des Aufbaus der demokratischen Autonomie in der Zeit zwischen 2005 und 2016 dargestellt. Dabei wurde auch auf die Rolle von Abdullah Öcalan eingegangen, der 2005 zum Aufbau demokratischer Selbstverwaltung aufrief. Die heftige Repression und staatliche Gewalt des faschistischen Regimes unter Erdogan gegen die demokratische Bewegung im Kampf für Freiheit und Selbstverwaltung wurde mit der Geschichte der Städtekriege und Ausgangssperren, den massenhaften Verhaftungen von HDP-Politiker:innen und der Gewalt gegen die kurdische Bevölkerung und die politische Opposition beschrieben. Diese Gewalt spitzt sich bis heute weiter zu und wurde auch in den Berichten der Aktivistinnen während des Wahlkampfes und der Wahlbeobachtung sichtbar.
Gesellschaftlicher Widerstand und Frauenbewegung
Anhand der gemachten Erfahrungen und Gesprächen, die von den Aktivistinnen vor Ort geführt wurden, berichteten sie über die Stärke und Kraft des gesellschaftlichen und politischen Widerstands in Nordkurdistan. Dabei wurde vor allem auf die Perspektive der kurdischen Frauenbewegung eingegangen, die sich in Räten, Kooperativen und Räten organisiert und mit Jin TV und der Nachrichtenagentur JinNews darüber berichtet. Auch der Kampf von Frauen und LGBTI+Personen wurde thematisiert. Während eines Gesprächs im Rahmen der Delegation erzählte der Frauenverein Rosa in Amed (tr. Diyarbakir) von der Entwicklung der Situation der Frauenhäuser in den letzten acht Jahren. 2015 gab es 50 Frauenhäuser in Nordkurdistan, die durch die demokratische Bewegung der Region aufgebaut wurden. Heute existieren nur noch fünf dieser Schutzeinrichtungen, von denen zwei wiederum durch die anstelle der gewählten Kommunalverwaltungen vom türkischen Staat ernannten Zwangsverwalter übernommen wurden. Frauen erfahren dort praktisch keine Unterstützung.
Keskesor: Die gesellschaftliche Dynamik entwickeln
Auch mit der Organisation Keskesor wurden während der Delegation Gespräche geführt. Keskesor versucht aus der Perspektive des Paradigmas von Abdullah Öcalan dauerhafte Lösungen für LGBTI+Personen zu entwickeln. Unter Berücksichtigung der bestehenden traditionellen Vorstellungen der Gesellschaft zielt Keskesor darauf ab, die gesellschaftlichen Dynamiken so zu entwickeln, dass sie für eine gleichberechtigte Beteiligung aller Identitäten offen sind. Um dies zu erreichen, organisiert Keskesor Workshops in ganz Nordkurdistan, vernetzt LGBTI+Personen und unterstützt diese bei Bedarf auch finanziell.
Kämpfe verbinden
Die Zuspitzung nationalistischer, faschistischer und patriarchaler Politik der Nationalstaaten ist auch in Deutschland spürbar. Die zunehmende Kriminalisierung progressiver, revolutionärer Bewegungen wie der kurdischen Befreiungsbewegung und dem antifaschistischen Widerstand, die enge Zusammenarbeit der Bundesregierung mit Erdogan und das dröhnende Schweigen über die menschenrechtswidrigen Angriffskriege der Türkei in Kurdistan machen deutlich, dass hinter all dieser Gewalt die Gewalt der Nationalstaaten steht. Auf den Veranstaltungen wurde über die Bedeutung des Kampfes in Nordkurdistan, die Art der Organisierung und die Wahlen für eine demokratische Bewegung auch hier in Deutschland diskutiert. „Das faschistische System in der Türkei, Deutschland und weltweit kann nur mit Selbstorganisierung hier vor Ort und dem Verbinden der verschiedenen Kämpfe um Demokratie und Freiheit weltweit überwunden werden", konstatierte eine teilnehmende Person zum Abschluss einer Veranstaltung.
Rojava und Bakur
Während der Veranstaltungen wurde das Interesse an dem Aufbau der demokratischen Autonomien und der kurdischen Befreiungsbewegung in Bakur, dem Norden Kurdistans, deutlich. Die Teilnehmenden hatten allerdings wesentlich mehr Wissen über die Geschichte und den revolutionären Aufbau der demokratischen Selbstverwaltung in Rojava, dem Westen Kurdistans. Veranstalter:innen berichteten auch, dass bei Veranstaltungen mit eindeutigerem Bezug zu Rojava mehr Menschen teilnehmen, als bei Veranstaltungen, die sich auf Bakur beziehen. Die Dringlichkeit, mehr über die aktuelle Situation in Bakur zu informieren, zu sprechen und zu diskutieren, wurde mehrmals betont. Die Infotour war somit ein wichtiger Schritt in diese Richtung.
In Halle gab es außerdem ein Interview mit dem selbstorganisierten Radio Corax, welches am Morgen noch die Veranstaltung am 4. Dezember bewarb. Es ist zu finden unter diesem Link.