Die Ko-Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Pervin Buldan und Mithat Sancar, haben sich in der HDP-Zentrale in Ankara zu dem jüngsten „Putsch im Parlament“ geäußert. Während einer Debatte war dort am Donnerstag drei oppositionellen Abgeordneten die Immunität entzogen worden. Wenige Stunden später wurden die zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilten Politiker*innen Leyla Güven (HDP), Musa Farisoğulları (HDP) und Enis Berberoğlu (CHP) verhaftet. Die HDP bezeichnet das Vorgehen als einen „rechtswidrigen Schritt“ und „politischen Coup“. Die Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und dessen ultranationalistischer Koalitionspartner MHP wolle eine „Putsch-Mentalität“ verfestigen und das „Treuhand-Regime als die neue Normalität“ im Land verankern. Mandatsträger*innen würden nicht mehr gewählt, sondern ernannt werden, insbesondere in den kurdischen Hochburgen, wo die AKP und MHP schwach seien. Doch keine der Methoden, die auf die Zerschlagung der Opposition abzielten, werde das demokratisch-politische Engagement der HDP beeinflussen können. „Wir setzten unseren Widerstand fort und halten unsere Stellungen“, so die beiden Vorsitzenden.
„Die Regierung befindet sich im Prozess des Machterhalts, dessen Dynamik nur durch ständige Eskalation mit Hilfe von Repression, Betrug und Unterdrückung kontrolliert werden kann. Keine der von der Regierung in jüngerer Zeit gewonnenen Wahlen sind legitim. Demzufolge ist auch keine ihrer Errungenschaften legitim. Denn jede Wahl, ganz gleich ob es sich um Kommunal- oder Parlamentswahlen handelt, ist gezeichnet von massivem Betrug zugunsten der Regierungspartei“, sagte Pervin Buldan. Die Entscheidung, drei Parlamentarier*innen den Abgeordnetenstatus streitig zu machen, reihe sich ein in die traditionelle „Putsch-Perspektive“ in der Türkei, die auf die Abschaffung der Demokratie in dem Bestreben ziele, den Willen des Volkes zu untergraben. Der gestrige Staatsstreich stelle somit eine Fortsetzung der vergangenen Coups gegen die kurdische und demokratische Politik dar.
DEP-Abgeordnete 1994 im Parlament verhaftet
Die aktuelle Situation ähnelt jener im Jahr 1994, als die Immunität von Parlamentsmitgliedern der Demokratiepartei (DEP) aufgehoben wurde und Leyla Zana, Orhan Doğan, Hatip Dicle und Selim Sadak wegen Terrorismusvorwürfen verhaftet wurden, bevor sie ein Jahrzehnt im Gefängnis saßen. Begründet wurde die damalige Maßnahme damit, dass die Abgeordneten ihren Loyalitätseid beim Amtsantritt auch in kurdischer Sprache abgelegt hatten. Als die Politiker*innen gewaltsam von der Polizei aus dem Parlament abgeführt wurden, begrüßten die anderen Parteien die Geschehnisse mit Standing Ovations. Ähnlich verhielt es sich beim „Putsch vom 4. November 2016“, als etliche HDP-Angeordnete, darunter die früheren Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, verhaftet wurden, nachdem ihnen kurz zuvor auf Betreiben Erdoğans die Immunität entzogen worden war.
Putsch trifft gesellschaftlichen Frieden
„Diese Putsch-Mentalität richtet sich jedoch nicht nur gegen die HDP oder die kurdische Bevölkerung. Sie betrifft uns alle, da es im Kern um den gesellschaftlichen Frieden geht, der angegriffen wird“, sagte Buldan. „Deshalb rufen wir als HDP die Völker der Türkei auf, ein Demokratiebündnis zu bilden, um einen gemeinsamen Kampf zu führen.“ Buldan wies auf das Anfang der Woche veröffentlichte Positionspapier ihrer Partei hin. Durch den autoritär-autokratischen Staats- und Regierungskurs schlittert die Türkei immer tiefer in die Krise. Um eine demokratische Entwicklung des Landes nachhaltig zu fördern, bedürfe es eines neuen demokratiepolitischen Ansatzes, erklärt die HDP in ihrem Strategieplan. Darin spricht sich die HDP für einen demokratischen Aufbruch aus und ruft gesellschaftliche Interessengruppen auf, die gemeinsamen Kräfte zu bündeln.
„Die HDP ist bereit, ohne zu zögern alle an sie gerichteten Aufgaben zu erfüllen. Angesichts der Dringlichkeit und der Schwere der Gefahr, die uns gemeinsam erwartet, sollten sich auch alle anderen demokratischen Kräfte ihrer Verantwortung bewusst werden“, so Buldan. Eine gemeinsame Widerstandsfront sei schließlich stärker.