Am Wochenende hat in Augsburg ein „Knastspaziergang“ zur Justizvollzugsanstalt (JVA) Gablingen stattgefunden. Dort sitzt der kurdische Aktivist Yilmaz Acil seit vergangenem September wegen vermeintlicher PKK-Mitgliedschaft in Untersuchungshaft. Die Münchner Staatsanwaltschaft legt dem vierfachen Familienvater zur Last, auf einer Veranstaltung eine Fahne mit dem Abbild des geistigen Anführers des Dersim-Aufstandes von 1937, Seyit Riza, getragen zu haben, der von der türkischen Armee hingerichtet wurde. Auch soll er mit gewählten Parlamentsabgeordneten der HDP telefoniert haben. Zusätzlich wird Yilmaz Acil vorgeworfen, Gedenkveranstaltungen für die Massaker von Dersim, Maraş und Roboskî besucht zu haben. Für Veranstaltungen habe er Blumen und Essen gekauft, hinterher aufgeräumt und den Müll weggebracht sowie an 37 Demonstrationen teilgenommen.
Zum Knastspaziergang für Acil hatte die Solidaritätsorganisation Rote Hilfe e.V. aufgerufen, die zur Jahreswende traditionell Spaziergänge vor die Gefängnisse veranstaltet, um die Isolation zu durchbrechen und Solidaritätsgrüße über die Mauern zu schicken. Coronabedingt konnte die Aktion in Gablingen jedoch nicht wie geplant am Silversterabend durchgeführt werden. Stattdessen fand die Demonstration am Samstag statt. Zahlreiche linke Aktivistinnen und Aktivisten aus verschiedenen Regionen Bayerns waren gekommen und zogen selbstbestimmt und kämpferisch vom Gablinger Bahnhof bis vor die JVA.
Nachfolgend dokumentieren wir einen Redebeitrag der Roten Hilfe auf der Demonstration:
Die Verwaltungsbehörden wollten es uns dieses Mal besonders schwer machen, unsere Grüße an die Menschen im Knast zu senden. Die Coronapandemie muss als Erklärung herhalten, um die Einschränkungen unserer Versammlungsfreiheit zu rechtfertigen. Wir haben aber schon zu Beginn der Pandemie gezeigt, dass bei verantwortungsvollem Umgang sehr wohl auch große Demonstrationen und Kundgebungen möglich sind, ohne gleich ein Superspreaderevent zu veranstalten. Die Behörden können sich damit nicht rühmen. Bis zuletzt wurde und wird jede Maßnahme, die die Profite der Wirtschaft schmälern oder den Staat Geld kostet, hinausgezögert. Die Schließung der Schulen und Kitas, die Stilllegung nicht systemrelevanter Betriebe, die Aufstockung des Krankenhauspersonals und der Ausbau der Intensivstationen – all das wurde sehenden Auges unterlassen. Das Versammlungsrecht hingegen war sofort eingeschränkt.
Auch in Zeiten von Pandemie: Knast zur Durchsetzung kapitalistischer Herrschaft
Doch wir sind hier nicht trotz, sondern gerade wegen der Coronapandemie. Während Corona-Leugner*innen von Freiheit reden und Ignoranz meinen, sind etwa 60.000 Menschen in 186 Straf- und Abschiebeknästen in Deutschland eingesperrt. Auch in Zeiten der Corona-Pandemie rückt der Staat keinen Millimeter vom Konzept Knast zur Durchsetzung der kapitalistischen Herrschaft ab. Im Frühjahr – auf dem Höhepunkt der ersten Coronawelle – rebellierten Gefangene in dutzenden italienischen Gefängnissen aus Angst vor der Krankheit und gegen die Auswirkungen auf die Bedingungen hinter Gittern. Ihre Befürchtungen waren keineswegs falsch. Beklagen wir uns schon über soziale Isolation aufgrund der Kontaktbeschränkungen oder mehrtägiger Quarantäne, wie ergeht es dann erst den Menschen im Knast?
Ganz kurz kam am Anfang des Jahres die Diskussion auf, soziale Gefangene aus der Haft zu entlassen damit Hygienemaßnahmen nicht auf Kosten der Rechte der Gefangenen gehen. Doch diese war schnell wieder vergessen. Um die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen wurden stattdessen die Aufschlüsse und Hofgänge eingeschränkt, Besuchstermine und Sportangebote gestrichen und wie auch draußen gilt: für die Profite anderer muss natürlich weiterhin geschuftet werden. Zwar gibt es jetzt längere Telefonzeiten und kostenlose Fernseher, dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die getroffenen Maßnahmen unterm Strich eine Ausweitung der Isolationshaft sind. In einigen Knästen werden neue Gefangene bereits präventiv für 10 Tage in Isolationshaft gesteckt, anstatt einfach einen Coronatest zu machen.
Dass der Staat vom System Knast auch in Zeiten einer weltweiten Pandemie nicht abrückt, verwundert nicht. Die Knäste sind schließlich eine der tragenden Säulen der kapitalistischen Herrschaft. Wie uns die hell erleuchteten Schaufenster und bunten Werbungen unseren Konsumrausch ankurbeln sollen, sollen uns die Gefängnisse daran erinnern dabei nicht aus der Reihe zu tanzen.
Ausbeutung in Knästen
Die wenigsten riskieren eine Haftstrafe aber wegen eines Tänzchens. Der Großteil der Gefangenen in Deutschland sitzt hinter Gittern, weil ihre ökonomische Situation sie dazu zwang. Armut und fehlende Chancen aus ihr heraus zu kommen, treiben Menschen zum Bruch mit den bürgerlichen Gesetzen. Deswegen werden sie von der Justiz weggesperrt und in den Betrieben der Knäste unter den prekärsten Bedingungen ausgebeutet. Die Knäste der BRD sind hierfür betriebswirtschaftlich organisiert und gleichen Werkshallen in denen Profite auf Kosten der Gefangenen gemacht werden. Während arbeitende Gefangene etwa 1-2 Euro die Stunde für ihre Knastarbeit verdienen, bereichern sich große Konzerne wie Mercedes, Porsche und BMW an der Niedriglohninsel Knast.
Paragraph 129b: Instrument zur Kriminalisierung kurdischer Bewegung
Bundesweit ziehen deshalb am Silvesterabend solidarische Menschen vor die Knäste, um die Isolation zu durchbrechen und Solidaritätsgrüße über die Mauern zu schicken. In vielen Städten blicken diese Knastspaziergänge auf eine lange Tradition zurück.
Dieses Jahr gilt unsere Solidarität besonders unserem Genossen Yilmaz Acil, der im September festgenommen und hierher verschleppt worden ist. Mit dem berüchtigten Paragraphen 129b wird versucht, ihn und die kurdische Freiheitsbewegung in Deutschland mundtot zu machen.
Geschaffen wurde der § 129 Ende des 19. Jahrhunderts, um die aufkommende Arbeiterbewegung auch juristisch verfolgen zu können. Bei weitem ist dies nicht das einzige juristische Mittel, das gegen eine linke Bewegung in Stellung gebracht werden kann. Schier endlos ist die Liste der Paragraph im Strafgesetzbuch mit dem linke Aktivist*innen eingeschüchtert und von ihrer politischen Betätigung abgehalten werden sollen. Und immer, wenn ihnen ihre aktuell zur Verfügung stehenden Mittel nicht reichen, erfinden sie sich neue oder verschärfen die bereits vorhandenen. So auch den Paragraphen 129.
Paragraph sieht keinerlei individuellen Tatnachweis vor
Auf dem Höhepunkt der staatlichen Repression, die sich in den 1970er Jahren gegen die gesamte radikale Linke richtete und die vor über 30 Jahren im „Deutschen Herbst“ gipfelte, wurde 1976 ein Gesetz verabschiedet, das dem innerstaatlichen Kampf gegen die Linke völlig neue Dimensionen verlieh: Der Paragraph 129a, der die „Bildung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ ahndet.
Dieser sieht keinerlei individuellen Tatnachweis mehr vor. Wer – tatsächlich oder angeblich – einer Gruppe angehört, die nach der Definition des Staates als „terroristisch“ eingestuft wird, kann umfangreich überwacht und zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt werden.
Damit schafft sich die Klassenjustiz ein lästiges Problem vom Hals, nämlich beweisen zu müssen, wer für welche Straftat verantwortlich ist. Sobald ein Gericht zu der Überzeugung kommt, dass die angeklagte Person Mitglied in einer „terroristischen“ Gruppe ist, für sie geworben oder sie unterstützt hat, führt dies zu einer Verurteilung. Demnach reicht die bloße Solidaritätsbekundung mit einer nach §§129a oder b verfolgten Gruppe aus, um für Jahre hinter Gitter zu gehen. Hunderte Genoss*Innen mussten dies in den letzten Jahrzehnten am eigenen Leib erfahren.
Verunmöglichung einer offenen Diskussion
Es ging nicht allein um die staatliche Zerschlagung der bewaffnet kämpfenden Gruppen, sondern um die Verunmöglichung einer offenen Diskussion um notwendige politische Strategien innerhalb der Linken. Wer nicht von vornherein eine eindeutige Distanzierung signalisierte oder sich in devoten Ergebenheitsadressen an den Staat erging, wurde als RAF-Sympathisant gebrandmarkt und mittels des neu gewonnenen Anti-Terror-Paragraphen kaltgestellt. Persönliche Kontakte konnten durch dieses Repressionsinstrument ebenso zum Straftatbestand werden wie politische Diskussionen oder das Publizieren missliebiger Texte.
War der § 129a zunächst noch als außergewöhnliche Abwehrmaßnahme im Kampf gegen die Stadtguerilla begründet worden, wurde er sehr bald zum festen Bestandteil der staatlichen Repression gegen die gesamte Linke. Aber nicht nur in den Gerichtssälen. Genutzt wird er in den meisten Fällen als reiner Ermittlungsparagraph. Denn mit dem Vorwand einer 129-Ermittlung lässt ich nahezu jede Überwachungs- und Bespitzelungsmaßnahme begründen.
Erweiterung von §129b nach 11. September
Telefonate abhören, Wohnungen verwanzen, Observationen, die Liste der möglichen Bespitzelungsinstrumente ist schier unendlich. Tatsächlich zur Anklage kommen dabei die wenigstens eingeleiteten Verfahren. Oftmals reicht es den Ermittlungsbehörden linke Zusammenhänge auszuspähen.
Werden die Menschen doch eingesperrt und angeklagt, geht es in gleicher Manier weiter. Verteidiger*innenrechte werden beschnitten, Briefverkehr überwacht und prozessuale Standards außer Kraft gesetzt.
Nach 09/11 wurde dann noch einmal eine Schippe draufgelegt. Mit der Erweiterung §129b kann nun weltweit jede missliebige Gruppe verfolgt werden. Zu spüren bekommen dies seither hauptsächlich Revolutionär*innen, die im deutschen Exil leben. Es wundert nicht, dass die Entwürfe hierfür schon seit 1999 in den Schubladen des Innenministeriums lagen.
Dutzende Aktivisten aus der Türkei in deutschen Gefängnissen
Derzeit sind Dutzende Aktivist*innen aus der Türkei in deutschen Gefängnissen, die in der Regel der Mitgliedschaft in einer „terroristischen Vereinigung im Ausland“ nach §129b beschuldigt werden. Welche Organisation als terroristisch zu gelten hat, legen dabei die Bundesregierung und ihre Verbündeten je nach der aktuellen politischen Großwetterlage fest. Was das heißt, haben wir erst dieses Jahr mit dem skandalösen Urteil im Prozess gegen die angeblichen Mitglieder der TKP/ML gesehen. Ohne dass auch nur einer/einem der Angeklagten eine konkrete Straftat nachgewiesen werden konnte, verurteilte das Gericht die 10 Kommunist*innen zusammengenommen zu mehr als 40 Jahren Knast. Und wieso? Natürlich sind solche Urteile ganz im Sinne des Erdogan-Regimes. Darüber hinaus verfolgt die Bundesregierung eigene geopolitische Interessen, bzw. die des deutschen Kapitals. Die Türkei ist schon seit Zeiten des Kaiserreichs wichtige Verbündete Deutschlands, dankbare Abnehmerin deutscher Kriegsgeräte und sichert damit die Interessen des deutschen Imperialismus im gesamten Nahen Osten ab.
Flächendeckende Repression gegen kurdische Vereine
Gleichzeitig werden flächendeckend insbesondere kurdische Kundgebungen und Kulturvereine mit Repressalien überzogen, die von Versammlungsverboten und -auflagen über willkürliche Festnahmen bis hin zur Entziehung des Aufenthaltsstatus bei weiterer politischer Betätigung reicht. Damit versuchen die deutschen Behörden, die migrantische Linke mundtot zu machen und ein Klima der Angst zu erzeugen.
Die Rote Hilfe e.V. protestiert gegen die anhaltende Kriminalisierung der kurdischen und türkischen Linken. Wir fordern die sofortige Aufhebung des PKK-Verbots sowie die umgehende Abschaffung der Paragrafen 129/a/b.
Die Ermittlungen nach §129a und b sind ausschließlich politische Repressionsmaßnahmen, die mit klassischer Strafverfolgung ebenso wenig zu tun haben wie die darauffolgenden Prozesse, in denen auf sämtliche rechtsstaatliche Standards verzichtet wird, als faire Verfahren bezeichnet werden können. Folglich können wir als linke Solidaritätsorganisation uns nicht darauf beschränken, den einzelnen absurden Tatvorwürfen mit entlastendem Material zu begegnen. Politische Prozesse verlangen eine politische Antwort, die in diesem Fall nur heißen kann:
Weg mit den Paragraphen 129, 129a und 129b!
Für die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen!
Fotos: Rote Hilfe e.V. | Ortsgruppe München