Friedensakademiker Tuna Altınel aus der Haft entlassen

Der Mathematiker Tuna Altınel, Verfasser des Friedensappells „Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein“, ist aus dem Gefängnis entlassen worden.

In Reaktion auf die über die Monate andauernden Ausgangssperren in Nordkurdistan, bei denen das türkische Militär mit äußerster Gewalt gegen Zivilisten vorging, verfasste Tuna Altınel, Professor für Mathematik an der Universität Lyon I, Anfang 2016 den Friedensappell „Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein“. Insgesamt 1.100 Wissenschaftler*innen und Intellektuelle von 89 Universitäten setzten sich mit ihrer Unterschrift „für ein Ende der Vernichtungs- und Vertreibungspolitik gegenüber der gesamten Bevölkerung” in Nordkurdistan ein und forderten die türkische Regierung auf, die Friedensverhandlungen mit dem kurdischen Volk wiederaufzunehmen. Später stieg die Zahl der Unterschriften auf über 2200.

Auf den Friedensappell folgte eine Entlassungswelle. Im Ausnahmezustand entließ die Regierung unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan per Notstandsdekret mehrere tausend Wissenschaftler*innen. Hunderte der Betroffenen sind Teil der Initiative „Akademiker*innen für den Frieden“. Erdogan bezeichnete sie als eine „Bande ignoranter, dunkler Gestalten“ und „Landesverräter“, die „dafür bezahlen“ müssten.

Knapp 700 „Friedens-Akademiker“ mussten seitdem vor Gericht erscheinen. In 185 Fällen ergingen Urteile zu Haftstrafen von 15 bis 36 Monaten wegen der Verbreitung von „Terrorpropaganda“, auch Tuna Altınel wurde bereits zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Neun der Verurteilten hatten sich später an das Verfassungsgericht gewandt. Das entschied nun, ihre Rechte seien verletzt worden und Prozesse müssten neu aufgerollt werden. Sie erhalten zudem jeweils eine Entschädigung von 9000 Lira (umgerechnet rund 1430 Euro). Außerdem will das Verfassungsgericht Kopien des Urteils an die untergeordneten Instanzen schicken, um künftige Rechtsverletzungen zu vermeiden.

Unterstützer*innen von Tuna Altınel vor dem Gerichtsgebäude (Bild: MA)

Der Mathematiker Tuna Altınel wurde am 10. Mai in der westtürkischen Stadt Balikesir festgenommen, nachdem er die Polizei aufgesucht hatte, um sich über die Ausreisebestimmungen zu informieren, da sein Reisepass zuvor für ungültig erklärt worden war. Einen Tag später wurde er inhaftiert und in das Typ-L-Gefängnis in Kepsut überstellt. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Wissenschaftler aufgrund seiner Teilnahme an einer Konferenz in Frankreich „Propaganda für eine terroristische Organisation“ vor. Bei der Konferenz ging es um die „Todeskeller von Cizîr”, in denen unzählige Menschen während der Militärbelagerung von der türkischen Armee bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Der ehemalige HDP-Abgeordnete Faysal Sarıyıldız, der sich damals in Cizîr (Cizre) aufhielt, schilderte im Rahmen der Konferenz seine Erlebnisse. Dass Tuna Altınel als Übersetzer anwesend war, wurde ihm in der Türkei zum Verhängnis. Die erste Verhandlung in dem Prozess fand heute in Balikesir statt. Das Gericht ordnete die Haftentlassung des Akademikers an und vertagte sich auf den 19. November.