An diesem Sonntag stimmen die Wählerinnen und Wähler in der Türkei über einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament ab. Rund 61 Millionen Menschen sind zur Wahl aufgerufen, Stimmberechtigte im Ausland haben bereits in den Tagen zuvor gewählt. Die Abstimmung gilt als Richtungswahl. Der amtierende Staatschef Recep Tayyip Erdoğan geht zum ersten Mal seit 20 Jahren nicht als Favorit ins Rennen und bangt um seine Wiederwahl. Antworten auf die wichtigsten Fragen:
Worüber wird votiert?
Die Wählerinnen und Wähler haben zwei Stimmen: Eine für den Präsidenten und eine für das Parlament. Gegen Amtsinhaber Erdoğan tritt als aussichtsreichster Kandidat der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, für den „Sechsertisch“ an – ein Bündnis aus sechs Parteien unterschiedlicher politischer Lager, zu dem die größte Oppositionspartei CHP, die nationalkonservative MHP-Abspaltung IYI-Partei sowie weitere kleinere Parteien (DEVA, GP, DP und SP) gehören. Zudem geht als weiterer Kandidat der Ultranationalist Sinan Oğan vom rechten Wahlbündnis „Ata İttifakı“ ins Rennen. Er hat aber keine Chancen auf einen Sieg. Für das Parlament treten viele Parteien in Allianzen an.
Was hat es mit den Wahlbündnissen auf sich?
Wahlbündnisse erleichtern es kleineren Parteien, die im vergangenen Jahr eingeführte 7-Prozent-Hürde zu überwinden. Überschreiten die gültigen Gesamtstimmen aller Parteien einer Allianz diese Hürde, ist die Mindestvoraussetzung für den Einzug ins Parlament erfüllt. Erdoğans islamistisch-konservative AKP bildet ein Bündnis mit der rechtsextremen MHP sowie mit kleineren rechten und islamistischen Parteien – darunter auch Hüda-Par, die aus der Tradition des dschihadistisch-kurdischen Mördernetzwerks Hizbullah stammt und für zahlreiche „Morde unbekannter Täter“ verantwortlich ist.
Die Demokratische Partei der Völker (HDP) tritt wegen eines drohenden Verbots unter dem Banner der Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti, YSP) zur Wahl an. Beide Parteien bilden zusammen mit den linken und sozialistischen Parteien EMEP, TIP, TÖP und EHP das Bündnis für Arbeit und Freiheit, das seine Wählerinnen und Wähler dazu aufgerufen hat, für Kılıçdaroğlu zu stimmen.
Warum ist die Wahl wichtig?
Seit 21 Jahren regiert Erdoğan die Türkei, erst als Regierungschef, dann als Staatsoberhaupt. Seit 2018 führt er die Türkei mit einer Machtfülle, wie sie kein anderer Staatschef eines westlichen Landes besitzt. In jenem Jahr nahm die Türkei die größte Änderung ihrer politischen Ordnung seit der Gründung der Republik im Jahr 1923 vor. Bis dahin war das Land, wenn auch mit massiven Defiziten, eine parlamentarische Demokratie. An ihre Stelle trat 2018 ein Präsidialsystem ein, in dem sich die Legislative, Exekutive und Judikative nicht mehr gegenseitig kontrollieren, sondern dem Staatspräsidenten unterstehen. Seither erfüllt das Ein-Mann-Regime der Türkei alle Kriterien diktatorischer Verhältnisse.
Während die AKP-Kernwählerschaft Erdoğan nach wie vor blind vertraut, ist der Unmut vieler anderer im Land in den vergangenen Jahren massiv gestiegen: Junge Menschen sehen keine Perspektive in der Türkei, Journalistinnen und Journalisten werden massiv unter Druck gesetzt und verfolgt, nicht nur Kurdinnen und Kurden verurteilen Willkürjustiz. Und die verheerende Erdbeben-Serie im Februar in der Südosttürkei hat ein ohnehin wirtschaftlich kriselndes Land, das eine Hyperinflation erlebt, enorm erschüttert. Die Opposition will zum parlamentarischen System zurückkehren.
Wie stehen die Chancen für einen Sieg der Opposition?
So gut wie nie. Nahezu alle Umfragen sagen voraus, dass die Opposition bei der bevorstehenden Türkei-Wahl einem Sieg so nahe wie seit Jahren nicht mehr ist. Es zeichnet sich jedoch ein Kopf-an-Kopf Rennen zwischen Kılıçdaroğlu und Erdoğan ab. Gewinnt keiner der Kandidaten in der ersten Runde die absolute Mehrheit, kommt es am 28. Mai zu einer Stichwahl. Wer die Mehrheit im Parlament mit seinen 600 Abgeordneten erringen wird, ist noch nicht absehbar. Die Partei, die das Parlament gewinnt, hätte allerdings in einer Stichwahl einen psychologischen Vorteil.
Wird die Wahl fair und frei?
„Alles an diesem Wahlkampf ist unfair“, lautet die Ansicht vieler Beobachter:innen. Unter anderem geht es dabei um die Medienübermacht der Regierung – in der Türkei sind rund 95 Prozent der Print- und Fernsehmedien unter der Kontrolle von Unternehmen, die der AKP nahe stehen – und die Staatsressourcen, die Erdoğan missbraucht. Die Opposition befürchtet Manipulationen – und will deswegen möglichst viele Wahlbeobachter:innen in die Wahllokale schicken. Diese sollen die Stimmabgabe, die Stimmenauszählung und den Transport der Stimmzettel zu den Sammelstellen beobachten. Allein die CHP will mit 250.000 Wahlbeobachter:innen Manipulationen vorbeugen, und auch die YSP ist in Alarmbereitschaft. Kürzlich wurden auf Betreiben des AKP-geführten Innenministeriums hunderte Mitglieder der Partei und Anwält:innen, die die Sicherheit der Wahlen und die Urnen schützen sollten, festgenommen. Zu Problemen kann es aber auch aufgrund eines neuen Wahlgesetzes kommen, weil dadurch die Gefahr gestiegen ist, dass regionale Wahlausschüsse mit AKP-Leuten besetzt werden. 2018 hatte sich Erdoğan zudem schon zum Sieger erklärt, bevor alle Stimmen ausgezählt waren. Die Wahlbehörde YSK gilt als durch und durch politisiert und traf in der Vergangenheit Entscheidungen zugunsten Erdoğans.
Wie wird im Erdbebengebiet gewählt?
In den von den Erdbeben betroffenen Provinzen wird die Wahl in Containern und Schulen stattfinden. Rund 3,7 Millionen Menschen haben die Region offiziellen Angaben zufolge verlassen. Bislang haben sich aber nur rund 133.000 Menschen in anderen Provinzen zur Wahl registriert. Unklar ist, wie viele Menschen planen, zur Abstimmung in ihre Heimatregionen zurückzukehren. Am Grenzübergang Ibrahim Xelîl zwischen der Kurdistan-Region Irak (Südkurdistan) und der Türkei werden seit Freitag so gut wie keine Fahrzeuge mehr durchgelassen. Betroffene vermuten, dass sie so davon abgehalten werden sollen, ihre Stimme abzugeben.
Würde Erdoğan den Thron im Präsidentenpalast freiwillig räumen?
Darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Die Opposition hat sich auf alle Eventualitäten vorbereitet. Knifflig könnte es werden, falls der Wahlausgang knapp ist. Dann könnte Erdoğan versuchen, das Ergebnis anzufechten. So hatte seine Partei etwa 2019 das Resultat der Istanbuler Bürgermeister–Wahl nach einem Sieg der CHP annullieren lassen. Bei der Wahlwiederholung gewann die Opposition dann mit noch größerem Abstand. Gut möglich, dass er diesmal die „Terror“-Karte zücken wird. Die jüngsten Auftritte Erdoğan und seines Innenministers Süleyman Soylu deuten zumindest darauf hin, dass sie eine mögliche Wahlniederlage mit dem Vorwurf des „Terrorismus“ ablehnen könnten. „Wenn es sein muss, werden wir, wie in der Nacht des 15. Juli [der sogenannte Putschversuch 2016] unsere Freiheit und unsere Zukunft um den Preis unseres Lebens verteidigen“, drohte Erdoğan kürzlich. Außerdem warf er Kılıçdaroğlu vor, mit „Terroristen“ zusammenzuarbeiten. Soylu bezeichnete die Wahl sogar als „Putschversuch des Westens“ und behauptete, dass der Oppositionsführer die PKK direkt an die Urnen bringen und dafür sorgen werde, dass sie gewählt wird.
Und so ermahnte Kılıçdaroğlu allzu freudige Demonstrationen im Falle eines Wahlsiegs am Sonntag zu unterlassen. „Gerüchten zufolge sollen in der Wahlnacht einige Kräfte auf die Straße gehen und Krawalle veranstalten. Solche Gerüchte werden nicht nur an mich, sondern auch an andere führende Politiker weitergetragen“, sagte er. „Wenn wir in der Wahlnacht gewinnen, sollte niemand auf die Straße gehen. Alle sollten zu Hause bleiben. Denn wenn man auf die Straße geht, kann es zu Provokationen kommen.“
Wann beginnt die Wahl und wann liegt das Ergebnis vor?
Genau 60,7 Millionen Menschen sind in der Türkei stimmberechtigt. Im Ausland waren rund 3,4 Millionen Stimmberechtigte zur Wahl aufgerufen, 1,5 Millionen davon in Deutschland. Dort wurde bereits abgestimmt. Die Wahllokale in der Türkei öffnen um 7.00 Uhr (MESZ) und schließen um 16.00 Uhr (MESZ). Erste Teilergebnisse, die zunächst wenig Aussagekraft haben, werden noch am Abend erwartet. Diese werden von der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu veröffentlicht. Die Opposition speist die Ergebnisse in ihr eigenes System ein und will die Öffentlichkeit regelmäßig informieren. Der Sieger steht in der Regel schon in der Nacht fest.