Der jahrzehntelange Kampf der kurdischen Befreiungsbewegung hat längst eine internationalistische Dimension erreicht. Internationalist:innen kämpfen für ein freies und gleiches Leben des kurdischen Volkes und aller Menschen auf der Welt. In der kurdischen Kampfgeschichte gelten sie als Werte, die ihr Leben diesem Ziel widmen. Ein Teil dieser starken Struktur sind die Familien dieser Freiheitskämpfer:innen. Eltern deutscher Kämpfer:innen in der kurdischen Freiheitsbewegung folgen dem Weg ihrer Kinder und setzen sich für dieselben Werte ein.
Der Verein Familien für den Frieden e.V. geht auf eine Initiative von Eltern zurück, deren „Kinder“ - tatsächlich alles junge erwachsene Menschen - sich für den Aufbau einer multiethnischen und demokratischen Gesellschaft in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien engagieren. Berdan Doğan hat für die Tageszeitung Yeni Özgür Politika mit Dörte Simon-Rihn vom Vereinsvorstand gesprochen.
Wann und zu welchem Zweck wurde der Verein „Familien für Frieden“ gegründet? Wer sind eure Mitglieder und wie organisiert ihr euch?
Der Verein hat sich im Mai 2022 gegründet und ist seit Dezember 2022 ein eingetragener Verein und als gemeinnützig anerkannt. Bei Eltern, Verwandten und Freund:innen führte das Engagement und Interesse jüngerer Menschen für die basisdemokratischen und konföderalen selbstverwalteten Gebiete in Nord- und Ostsyrien zu vielen Fragen. Die Region ist seit Jahren von Krieg bedroht und betroffen. Das macht aus europäischer Sicht Angst und viele Menschen wissen sehr wenig darüber. Gleichzeitig setzen sich dort Menschen für ein friedliches Zusammenleben, unabhängig von ethnischer Herkunft, Geschlecht und Religion ein. Das wollten wir von Beginn an solidarisch unterstützen.
Die etwa zwanzig Gründungsmitglieder waren über ganz Deutschland verteilt. Das ist bei den mittlerweile 43 Mitgliedern und einer immer wachsenden Zahl von Interessierten auch so. Der Vereinssitz ist in Berlin.
Während unserer ersten Arbeiten, Treffen und Bildungen wurde deutlich, dass wir sehr unterschiedlich sind. Wir alle kommen aus der Mitte der Gesellschaft, oft politisch und/oder gesellschaftlich engagiert und eingebunden. Wir sind in Ostdeutschland und Westdeutschland aufgewachsen und sozialisiert. Wir haben alle verschiedene Berufe und bringen viele spannende unterschiedliche Biografien und Kompetenzen ein.
Kannst du eure Arbeit und eure Ziele beschreiben?
Mit der Arbeit des Vereins „Familien für den Frieden" möchten wir für die kurdischen und multiethnischen Siedlungsgebiete in den vier Nationalstaaten Türkei, Irak, Iran und Syrien Öffentlichkeit herstellen und verstehen uns unter anderem als eine Plattform für die Unterstützung der zivilgesellschaftlichen Entwicklungen und des friedlichen Zusammenlebens der Menschen dort.
Wir fördern und initiieren Projekte der schulischen und außerschulischen Bildung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Im Verein haben wir das Ziel, gleichberechtigt zu diskutieren, zu lernen und uns zu bilden. Unser Ziel ist es, ein selbstbestimmtes Miteinander jenseits von Macht und Gewalt in unserem Verein, in unseren Familien und in unserer Lebenswelt zu entwickeln.
Bombenangriffe und die erste Elternkampagne
Wir treffen uns dazu in Projektgruppen zu verschiedenen Themen vor allem in Videokonferenzen auf der Grundlage von Transparenz und gleichberechtigter Zusammenarbeit. Das Miteinander tut gut, stärkt und schafft Verbundenheit, besonders in herausfordernden Situationen. Als die Bombenangriffe im November 2022 anfingen, haben wir uns spontan getroffen und unsere Betroffenheit, Wut und Angst um Freund:innen und die Menschen vor Ort miteinander geteilt. Wir diskutierten, was zu tun wäre. Daraus erwuchs unsere erste Kampagne. Wir baten unsere Mitglieder und Interessierte darum, die Bundestagsabgeordneten ihres Wahlkreises anzuschreiben, diese zu informieren und sie aufzufordern, sich für den sofortigen Stopp der Bombardierungen der zivilen Infrastruktur in der AANES durch den Nato-Partner Türkei einzusetzen. Zum Teil konnten wir die Antworten veröffentlichen. Daraufhin entstanden manchmal gute und konstruktive Kontakte zu einigen Abgeordneten. Diese erste Kampagne war wichtig für uns, weil wir das Schweigen gebrochen haben, weil wir uns alle für sich und miteinander präsent gemacht haben.
Die persönliche Betroffenheit verständlich machen
Ausstellung „Innen befreit – von außen bekämpft“ in Darmstadt
Ein weiteres wichtiges Projekt war und ist die Fotoausstellung „Innen befreit – von außen bekämpft“. Ein halbes Jahr Arbeit lag hinter der Arbeitsgruppe ‚Ausstellung‘. Wir hatten keine Erfahrungen mit Ausstellungskonzepten, mit den Materialien, mit den Bildrechten, manchmal kamen wir an unsere Grenzen, fanden aber immer wieder auch überraschende Unterstützung und lernten dazu. Auch unseren Partner:innen in Nord- und Ostsyrien fiel es nicht immer leicht zu verstehen, was es in Deutschland braucht, um jenseits der Solidaritätsbewegung für die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien (AANES) die Menschen zu erreichen. Nun wird diese Ausstellung in verschiedenen Orten Deutschlands gezeigt, verbunden mit Informationsveranstaltungen, auf denen wir mit unserem Umfeld ins Gespräch kommen. In den öffentlichen Medien in Deutschland herrscht meist zu den Ereignissen Schweigen. Wir konnten unsere persönliche Betroffenheit in unseren Kommunen, Nachbarschaften, in unserem Arbeitsumfeld oder im Familien- und Freundeskreis kaum teilen, denn die Menschen um uns herum waren wenig oder gar nicht informiert. „Davon haben wir ja noch nie etwas gehört“, war eine häufige Reaktion. Wir wollen das mit Hilfe der Ausstellung ändern, vor allem ganz direkt in unserem jeweiligen Lebensumfeld.
Einen Umgang mit der Trauer finden
Bewegend und erschütternd war für uns der Tod von Azad Şergeş (Thomas), einem Sohn von Mitgliedern des Vereins. Die existentielle Bedeutung des Kampfes um ein friedliches Zusammenleben in Würde und Menschlichkeit war mitten in Deutschland zu spüren! Es ist die Trauer um diesen, wie um jeden Menschen, der sein Leben lassen musste, für die wir einen Platz, eine Kultur, einen Umgang finden mussten. Wie gut, hiermit nicht allein zu sein.
Was ist dir in der Vereinsarbeit besonders wichtig? Und wie geht ihr mit der Kriminalisierung der kurdischen Bewegung in Deutschland um?
Wir empfinden unsere Vereinstätigkeit als wertvoll, weil wir daran wachsen. Wir lernen dazu, jedes Mal, wenn wir etwas tun, was wir vorher noch nie getan haben, zum Beispiel, wenn ich dieses Interview gebe oder ich mich in meiner Kirchengemeinde äußere, weil ich im Gottesdienst nicht nur der Opfer des Krieges in der Ukraine gedenken will. Wir lernen dazu, wenn wir uns zum Beispiel nach einer internen Auseinandersetzung in der Arbeitsgruppe über die neuen Perspektiven eines Problems bewusst werden, und wenn wir lernen, den anderen zu vertrauen.
Aufklärungsarbeit gegen gezielte Kriminalisierung
Ich glaube unsere Vereinsarbeit ist wichtig, weil sie Öffentlichkeit zum Beispiel zu den Erfolgen des gesellschaftlichen Aufbaus in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien und zu den Angriffen auf diese Erfolge in die Mitte der deutschen Gesellschaft bringen kann, deren Demokratieerleben in einer tiefen Krise zu stecken scheint. Ich wünsche mir, dass unsere Arbeit einen solidarisierenden Effekt hat.
Es ist wichtig, Aufklärungsarbeit zu leisten über das, was in den vergangenen Jahren in Nord- und Ostsyrien erreicht wurde, um zu verdeutlichen, dass die Menschen in dieser Region ein Gesellschaftsmodell zu entwickeln versuchen, welches ein friedliches Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen und Ethnien sowie die Auflösung patriarchalischer Strukturen beinhaltet. Nur dadurch kann die Hürde der gezielten Kriminalisierung überwunden werden.
Seid ihr mit anderen Organisationen vernetzt? Welche Rückmeldungen bekommt ihr? Macht ihr auch Pressearbeit und wird in den Medien über eure Arbeit berichtet?
Auf den Veranstaltungen, die wir im Rahmen der Ausstellung „Innen befreit - Von außen bedroht“ organisieren, erhalten wir viel Zuspruch und reges Interesse sowohl von den Besucher:innen als auch von Pressevertreter:innen. Bisher leider wenig von überregionalen Medien.
Wir sind ein junger Verein, die Zusammenarbeit mit lokalen Vereinen und Organisationen läuft an. Unsere Erfahrung ist, dass man über konkrete Aktionen bzw. Veranstaltungen und eine Präsenz vor Ort auch ein weitergehendes Interesse am Thema Nord- und Ostsyrien wecken kann und eine Berichterstattung zumindest in der örtlichen Presse erreicht. Außerdem ist eine Vernetzung vor Ort sehr wichtig, um eine Weiterverbreitung der Informationen zu Nord- und Ostsyrien zu erreichen.Wir geben zu den aktuellen Ereignissen Presseerklärungen ab, wobei der überwiegende Teil der deutschen Presselandschaft diese Erklärungen so wie den Krieg des Nato-Partners Türkei weitgehend ignoriert.
Eskalierende Völkerrechtsverletzungen des türkischen Staates
Der türkische Staat hat im Oktober eine massive Angriffswelle auf Rojava durchgeführt und mit vorheriger Ansage gezielt weite Teile der lebensnotwendigen Infrastruktur in der Autonomieregion zerstört. Wie bewertet ihr die täglich fortgesetzten Angriffe?
Wir verurteilen diese andauernden und eskalierenden Verletzungen des internationalen Völkerrechts durch den türkischen Staat. Für uns ist es insbesondere unerträglich und unfassbar, dass dieses Vorgehen eines Nato-Partners keine öffentlichen Verurteilungen auslöst. An die deutsche Politik appellieren wir, sich ihrer demokratischen und humanistischen Werte zu erinnern und für diese auch international zu streiten, um die Friedensbemühungen der kurdischen Bewegung zu stärken und Kriegstreiber als solche zu entlarven. Seit wann entspricht es dem internationalenVölkerrecht, zivile Strukturen militärisch anzugreifen?
Wir, der Verein ‚Familien für den Frieden‘, sind zutiefst besorgt und wollen die Menschen in der Region der Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien nicht im Stich lassen. Wir fordern die sofortige Einstellung der türkischen Kampfhandlungen, eine Flugverbotszone über der Region und die internationale Unterstützung des Wiederaufbaus.