Europaweite Protestaktionen: „Şengal ist nicht allein!“

In mehreren europäischen Städten haben Protestaktionen gegen den Angriff der irakischen Armee auf Şengal stattgefunden. In Hannover intervenierte die Polizei wegen YPG-Fahnen, in Hamburg wurde die Freilassung festgenommener Journalist:innen gefordert.

Wegen des militärischen Überfalls der irakischen Armee auf die Region Şengal haben europaweit Proteste stattgefunden. Wie die Autonomieverwaltung von Şengal am Dienstag mitteilte, sind Gespräche über eine friedliche Beilegung des Konflikts gescheitert. Die irakische Zentralregierung unter Premierminister Mustafa al-Kadhimi will die nach dem IS-Genozid von 2014 aufgebauten Selbstverteidigungskräfte mit Gewalt auflösen und handelt nach Angaben der Autonomieverwaltung im Auftrag der Türkei und der südkurdischen Partei PDK. Die Kommandantur der YBŞ gab den Tod eines Kämpfers bekannt und erklärte, weiter von ihrem Selbstverteidigungsrecht Gebrauch zu machen.

Vor diesem Hintergrund haben ezidisch-kurdische Verbände zur Solidarität mit der Bevölkerung von Şengal aufgerufen, in Deutschland, der Schweiz, Frankreich und Italien haben Protestaktionen stattgefunden.

 

Eine Kundgebung vor dem Hauptbahnhof in Hannover wurde mit einer Schweigeminute für die Gefallenen des kurdischen Befreiungskampfes eingeleitet. Die Polizei ging gegen YPG-Fahnen vor und nahm vier Personen in Gewahrsam. Der Vorgang löste Empörung aus, da die YPG und YPJ aus Rojava zusammen mit der HPG-Guerilla Zehntausenden Menschen beim IS-Genozid von 2014 das Leben retteten, als die irakische Armee und die PDK-Peschmerga die Flucht vor den Islamisten ergriffen und die ezidische Bevölkerung ihrem Schicksal überließen.

 

Bei einer Kundgebung des kurdischen Kulturzentrums vor dem Kieler Hauptbahnhof wurde auf den Zusammenhang zwischen dem Angriff des irakischen Militärs auf Şengal und der Invasion der türkischen Armee in den Guerillagebieten in Südkurdistan hingewiesen und zur Solidarität mit dem ezidischen Volk aufgerufen.

In Hamburg fand eine Kundgebung auf dem Jungfernstieg statt. In Redebeiträgen und auf Transparenten wurde ein Ende der Angriffe auf Kurdistan und Şengal gefordert und auf die vor zwei Wochen im Irak festgenommenen Journalistinnen Marlene Förster und Matej Kavčič aufmerksam gemacht.


In Bern zogen Demonstrant:innen vor das US-Konsulat. Ein Sprecher des kurdischen Kulturvereins erklärte in einer Rede, dass ein imperialistischer Aufteilungskrieg stattfindet und alle kurdischen Errungenschaften vernichtet werden sollen. Die internationalen Kräfte wurden aufgefordert, Druck auf den irakischen und den türkischen Staat auszuüben.


Bei einer Kundgebung in Basel wurde davor gewarnt, die ezidische Gemeinschaft erneut im Stich zu lassen und einem Massaker auszusetzen.

Hintergrund: Militärische Eskalation in Şengal

Schon seit Wochen hat der Irak wiederholt seine Truppen in die Şengal-Region geschickt. Am 18. April, wenige Stunden nach Beginn des türkischen Angriffskrieges in einem anderen Teil Südkurdistans, kam es zu einem ersten Gefecht, nachdem irakische Einheiten einen Kontrollpunkt des Asayîşa Êzîdxanê (Innere Sicherheitskräfte) in der Gemeinde Digurê attackierten. Dem unprovozierten Angriff vorausgegangen war die versuchte Einnahme eines dortigen Checkpoints. Weil Vermittlungsversuche von den irakischen Truppen ausgeschlagen wurden, blieb der Asayîş keine Wahl, als den Angriff abzuwehren. Zwei Zivilpersonen wurden infolge des Feuergefechts verletzt. Am Folgetag weitete das irakische Militär seine Attacken auf Stellungen der Widerstands- und Fraueneinheiten YBŞ/YJŞ in Til Ezêr, Geliyê Silo und Sikêniye aus. Bei einem dieser Angriffe wurde die YJŞ-Kämpferin Faraşîn Şengalî getötet. Unmittelbar danach wurden die beiden westlichen Journalist:innen Marlene Förster und Matej Kavčič von der irakischen Armee unter Terrorverdacht festgenommen und aus Şengal nach Bagdad verschleppt. In den darauffolgenden Tagen zog Bagdad massive Truppenkontingente in der Region zusammen.

Vergangenen Sonntagabend startete der Irak schließlich einen umfassenden Angriff auf Şengal. Zunächst wurden in Digurê, Sinunê und Xanesor Verteidigungspositionen der YBŞ, YJŞ und Asayîşa Êzîdxanê von irakischen Spezialoperationseinheiten eingekesselt. Den ezidischen Kräften wurde das Ultimatum gestellt, ihre Stellungen freiwillig zu räumen. Andernfalls werde man ihnen „auf das Schärfste entgegentreten“. Am Montag eskalierte die Lage dann. Die irakische Armee setzte Panzereinheiten, schwere Waffen und Kampfhubschrauber gegen die Ezid:innen ein, in Digurê wurden eine Schule und ein YBŞ-Stützpunkt in Schutt und Asche gelegt. Bis zum Einbruch der Dunkelheit fanden teils schwere Auseinandersetzungen statt, auf beiden Seiten gab es Tote und Verletzte. Wie die YBŞ mitteilten, ist der Kämpfer Şervan Êzîdxan gefallen.

Türkisches Ultimatum an Bagdad?

Dass die irakische Offensive auf Şengal zeitgleich zur türkischen Invasion in Zap und Avaşîn geschieht, weist auf ein koordiniertes Vorgehen mit der Führung in Ankara hin. Der Autonomierat Şengals äußerte die Vermutung, dass die Türkei dem Irak ein Ultimatum gestellt haben könnte, die ezidischen Strukturen endlich zu zerschlagen, bevor man die Dinge selbst in die Hand nimmt. Sowohl die Zentralregierung in Bagdad als auch die kurdische Regionalregierung in Hewlêr (Erbil) arbeiten mit dem türkischen Staat darauf hin, ihren über die Köpfe der Bevölkerung Şengals hinweg geschlossenen Pakt vom Oktober 2020 in die Praxis umzusetzen. Dieser als „Sindschar-Abkommen“ verbrämte Deal sieht vor, die Gemeinschaft in Şengal durch die Auflösung ihrer Autonomieverwaltung und die Entwaffnung ihrer Selbstverteidigungseinheiten auf den Stand von vor 2014 zurückzuwerfen.