Vor dem Strafgericht in Ankara fand die erste Anhörung in einem neuen Prozess gegen Selçuk Mızraklı, den von der AKP-Regierung aus dem Amt entfernten Ko-Bürgermeister von Amed (türk. Diyarbakir) statt. Mızraklı wird von der Staatsanwaltschaft „Terrorpropaganda“ vorgeworfen. Der Angeklagte war der Verhandlung per Videokonferenz aus dem Gefängnis in Kayseri zugeschaltet, wo er aufgrund eines weiteren Verfahrens festgehalten wird.
Konkret vorgeworfen wird dem Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) die Teilnahme an Veranstaltungen des Ortsverbandes seiner Partei, Twitter-Postings gegen die Hinrichtung des kurdischen Aktivisten Ramin Hossein Penahi im Iran, die Teilnahme an einer Trauerfeier sowie an einer Konferenz der HDP und seine dreitägige Beteiligung an dem von Leyla Güven begonnen Hungerstreik.
Im Rahmen seiner Verteidigung erinnerte Mızraklı an Ereignisse wie den Anschlag auf eine Friedenskundgebung am 10. Oktober 2015 in Ankara, die Angriffe auf Kobanê sowie die Proteste dagegen, die Ersetzung der demokratisch gewählten HDP-Bürgermeister*innen durch Zwangsverwalter an diversen Orten und die vielen unaufgeklärten Morde der Jahre 1980 bis 2000.
Mızraklı betonte, die Kurden seien ein Schlüsselelement in der Region und Teil dessen, was die Region ausmacht. Weiter führte er aus: „Die HDP ist nicht die Propagandamaschine von irgendwem, sie ist eine Partei, die in der Türkei Politik macht.“ Dabei wurde er mehrmals vom vorsitzenden Richter unterbrochen.
Der Angeklagte war vor seiner Wahl zum Ko-Bürgemeister von Amed Parlamentarier in der Nationalversammlung und ist der erste von unzähligen angeklagten Abgeordneten der 27. Legislaturperiode, dessen Prozess verhandelt wird. Neben seinen Ausführungen zur HDP stellte Mızraklı auch die Frage, wie sein Tweet einen Gesetzesverstoß darstellen könne: „Ich wundere mich über den Vorwurf in Verbindung mit Rahim Penahi. Wäre er in der Türkei aufgegriffen worden, dann würde die türkische Justiz ihn nicht ausliefern, weil im Iran die Todesstrafe praktiziert wird.“
Die verteidigenden Anwältinnen Şevin Kaya und Arzu Kurt erinnerten, dass der Gegenstand des Verfahrens die politischen Äußerungen eines Bürgermeisters und ehemaligen Abgeordneten seien. Laut dem vorsitzenden Richter sei aber klar: „Dies ist kein politisches Verfahren. Terrorpropaganda ist kein kein politisches Verfahren.“ Die Verteidigerin Kaya sieht das anders: „Wir bewerten das als politisches Verfahren. Wir verteidigen hier im Kontext eines in der Türkei seit 40 Jahren andauernden politischen Geschehens.“ Mızraklı schloss seine Aussage mit der Forderung: „Vor dem Gesetz sollte jeder gleich sein.“
Die Anwältinnen haben eine Verlängerung der Anhörungen beantragt, um in der Verteidigung auf alle Aspekte der Vorwürfe eingehen zu können. Auf Entscheidung des Gerichts wurde der Folgetermin auf den 13. Januar 2021 angesetzt.