Efrîn-Besatzung: Offener Brief an Angela Merkel

Die Deutschland-Vertretung der nordostsyrischen Autonomieverwaltung fordert in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel verstärkten Einsatz für die Beendigung der türkischen Besatzung von Efrîn.

Ibrahim Murad ist Deutschland-Vertreter der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien. Aus Anlass des Jahrestages der Besatzung von Efrîn hat er sich in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel gewandt:

Am 18. März 2020 jährt sich zum zweiten Mal der Beginn der türkischen Besetzung der syrisch-kurdischen Stadt Afrin mit Unterstützung Türkei-loyaler dschihadistischer Gruppierungen. Damit verbunden ist nun seit zwei Jahren auch das tagtägliche Leid des syrischen Volkes vor den Augen der internationalen Gemeinschaft.

Am 20. Januar 2018 begann der türkische Staat seine brutale und völkerrechtswidrige Expansion gegen seinen souveränen Nachbarstaat Syrien, unterstützt durch dschihadistische Kräfte. Dies geschah unter vollständiger Missachtung westlicher Werte. Eine Gefährdung des NATO-Bündnisses wurde in Kauf genommen, um die Serie von Angriffen auf syrisch-kurdisches Territorium fortzusetzen.

Vor der Aggression und Besetzung war Afrin eine bis dahin weitestgehend vom Krieg verschont gebliebene multiethnische Stadt. Hunderttausende Vertriebene aus allen Regionen Syriens waren vor der Geißel des Krieges und der Zerstörung geflohen, um in Afrin Zuflucht und Schutz zu finden.

Binnen kurzer Zeit und unter widrigen Verhältnissen hatte es Afrin geschafft, seine demokratische Selbstverwaltung unter starker und effektiver Beteiligung von Frauen in verschiedenen Institutionen aufzubauen. Ziel war es, der Bevölkerung durch die geschaffene Stabilität Schutz zu bieten und sich vom Machtkampf zwischen einem diktatorisch-nationalistischen Regime und einer von der Türkei unterstützten islamistischen Opposition fernzuhalten.

Die türkische Regierung, die Demokratie ablehnt, sieht eine existenzielle Gefahr für ihre expansionistisch-islamistische Politik im Nahen Osten und anderen Teilen der Welt im Etablieren einer Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien und in den damit verknüpften praktischen Schritten beim Aufbau einer demokratischen Gesellschaft auf der Grundlage von Koexistenz und Frieden. Den Einmarsch in Afrin sehen wir im Zeichen dieses kolonialistischen Selbstverständnisses und im Zusammenhang mit zunehmenden, geschürten Ängsten vor einem Misslingen dieses Vorhabens. Dies gilt insbesondere seitdem die Internationale Koalition und die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) große Siege über die Terrororganisation IS in Syrien errungen haben.

Die türkische Aggression schuf fast eine halbe Million Vertriebener. Von diesen lebt ein Großteil unter harten, unmenschlichen Bedingungen in mehreren Flüchtlingslagern in der Region Shahba. Diese werden kontinuierlich durch den türkischen Staat und von ihm unterstützten Terrorgruppen bombardiert. Dutzende unbewaffneter Zivilisten, darunter Frauen, Kinder und ältere Menschen fielen den Angriffen bereits zum Opfer. Systematische Menschen- und Völkerrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten sind an der Tagesordnung: Entführungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Tötungen, Vertreibungen, Plünderungen mit Antiquitätendiebstahl und die Zerstörung eines unwiederbringlichen kulturellen Erbes werden im Sinne einer Türkisierungspolitik durchgeführt. Ziel ist eine nachhaltige demografische Veränderung und die Festigung der Vorherrschaft des türkischen Staates auf besetztem syrischem Territorium gemäß neoosmanischer Ambitionen.

Wie Sie sicherlich verfolgen, sind die Berichte verschiedener humanitärer und Menschenrechtsorganisationen aus Afrin und der umliegenden Region ein Abbild der türkischen Besatzungsrealität. Sie zeugen von den wahren Absichten der türkischen Regierung. Diese Situation wiederholte sich nach Jarablus, in Sari Kani, in Tell Abiad und nun auch in Idlib. Völkerrechtswidrige Besetzungen mit all ihren Konsequenzen für die Bevölkerung machen das Erreichen einer friedlichen Lösung in Syrien nahezu unmöglich.

Deutschlands Präsenz in der europäischen und internationalen Politik sowie seine politisch-ökonomische Kraft können eine entscheidende Rolle bei der Lösung der Syrienkrise spielen.

Wir fordern die Bundesregierung hiermit auf, ihre verschiedenen diplomatischen Möglichkeiten sowie ihre guten politischen und Handelsbeziehungen zu allen Parteien zu nutzen, um die Geschicke in der Region entscheidend positiv zu beeinflussen. Wir fordern die Bundesregierung auf,

•             sich für eine Beendigung der Besetzung im gesamten Norden Syriens einzusetzen,

•             die Bemühungen zur Errichtung eine Sicherheitszone unter Aufsicht der Vereinten Nationen aktiv zu unterstützen,

•             die Bestrebungen zur Etablierung demokratischer, föderaler Strukturen in Syrien aktiv zu fördern und

•             gemeinsam mit allen Teilen der syrischen Gesellschaft eine neue Verfassung auszuarbeiten, die insbesondere die Minderheitenrechte garantiert.