„Die Regierung hat mich dem Tod überlassen“

Malik Dalyan wartete nach dem Erdbeben zwei Tage eingeschlossen unter den Trümmern seines Wohnhauses im Viertel Armutlu in Hatay auf Hilfe. Er fragt: „Wurden wir im Stich gelassen, weil wir Alawiten sind?“

Malik Dalyan erlebte das Erdbeben der Stärke 7,7 mit Epizentrum in Gurgum (tr. Maraş) am 6. Februar in einem siebenstöckigen Wohnhaus im Viertel Armutlu in der Kreisstadt Defne in Hatay. Das Haus stürzte in Sekundenschnelle ein und Dalyan wartete wie Zehntausende weitere Menschen zwei Tage lang unter den Trümmern auf staatliche Hilfe, die jedoch ausblieb. Gegenüber ANF hat er davon berichtet.

Dalyan sagt, dass er mit seiner Familie im ersten Stock wohnte und in dieser Nacht nicht schlafen konnte, weil er sich unwohl fühlte. Seine Frau und ein Sohn hätten das Gebäude noch verlassen können: „In den ersten Sekunden des Erdbebens verließen meine Frau und mein Sohn das Gebäude vor mir. Da mein anderer Sohn in der Wohnung blieb, ging ich zurück, um ihn zu holen. Als ich die Wohnungstür öffnete, fiel der Strom aus und das Gebäude stürzte in sich zusammen. Mein erster Reflex war, in die Hocke zu gehen und mir die Hand auf den Kopf zu legen. Ich spürte nicht, wie die Decke einstürzte. Es war dunkel. Ich hatte mein Handy in der Tasche und schaltete sofort das Licht an. Meine Füße steckten fest. Außerdem hatte ich starke Schmerzen in meinem Brustkorb. Ich begann, die Steine von meinen Füßen zu heben. Einer meiner Füße blutete und war geschwollen. An der Stelle, an der ich in den Trümmern lag, war ein Schuh meines Sohnes liegen geblieben. Ich zog den Schuh über meinen Fuß, um die Blutung zu stoppen, aber mein Fuß war stark geschwollen. Ich schaute mich mit dem Licht um und sah, dass die Säulen auf mich gestürzt waren. Ein Stück hatte sich aus der Säule gelöst, und ich konnte durch ein kleines Loch nach draußen sehen. Es war noch dunkel draußen. Ich begann zu warten. Am Morgen kam Licht aus dem kleinen Loch, und ich rief nach Hilfe, wenn ich hörte, dass jemand vorbeikam. Oben waren ein Mann und eine Frau, die ebenfalls eingeschlossen waren wie ich. Es war sehr kalt, vor allem in der Nacht. Wir sind bei dem Erdbeben nicht gestorben, aber ich dachte die ganze Zeit, dass wir erfrieren würden, weil keine Hilfe kam."

Von Arbeitern mit Spitzhacken und Schaufeln gerettet

Er habe niemanden anrufen können, weil es kein Netz gab, berichtet Dalyan. Um bei der Kälte nicht zu erfrieren, habe er sich ständig die Füße gerieben. Am ersten Tag hörten zwar einige Leute seine Stimme, aber sie sagten ihm nur, er solle sich gedulden, weil sie kein Gerät hätten, um ihm zu helfen, so Dalyan: „Sie sagten mir immer wieder: ,Hab Geduld, sie werden kommen'. Aber es vergingen Stunden, ohne dass jemand kam. Dann kamen mein Bruder und weitere Verwandte. Sie brachten Soldaten und freiwillige Helfer mit. Es waren Arbeiter und sie retteten mich nach zwei Tage mit einer Spitzhacke und einer Schaufel, denn die Baumaschinen waren noch nicht da. Ich bat um Werkzeug und begann von innen, die Steine zu zerschlagen."

„Wurden wir im Stich gelassen, weil wir Alawiten sind?“

Dalyan betont, dass die Regierung die Erdbebenopfer im Stich gelassen habe: „Es ist keine Hilfe gekommen und wer etwas anderes behauptet, lügt. Man wollte uns blindlings sterben lassen. Die Regierung ist schuldig, sie hat sich nicht gekümmert. Wenn 24 Stunden lang keine Hilfe kommt, sagen wir okay, aber wo war der Staat am zweiten Tag und über Tage hinweg? Warum lässt er die Menschen sterben? Ist es, weil dies das Armutlu-Viertel ist? Ist es, weil es ein alawitisches Viertel ist? Wir haben tagelang darauf gewartet, dass unsere Leichen herausgeholt werden. Wo sind die staatlichen Institutionen? Wenn nicht an einem schlechten Tag, an welchem Tag gibt es dann den Staat und die Regierung?"

Die Provinz Hatay

Die Provinz Hatay gehörte bis zu Beginn des 20. Jahrhundert als „Sandschak von Alexandrette” zum Osmanischen Reich. Nach dessen Zerfall wurde der Sandschak 1918 von Frankreich besetzt und im Rahmen eines Völkerbundmandates als Teil Syriens von Frankreich verwaltet. 1923 erhielt Alexandrette einen Autonomiestatus. Dort sollten armenische Überlebende des Genozids von 1915 zusammen mit den alawitischen Araber:innen, die die Bevölkerungsmehrheit stellten, eine neue Heimat erhalten. 1936 lief das französische Völkerbundsmandat über Syrien ab. Die Türkei meldete Ansprüche auf den Sandschak Alexandrette an.

Um die Türkei davon abzuhalten, auf Seiten des Deutschen Reiches in den Zweiten Weltkrieg einzutreten, schloss Frankreich im Juni 1939 einen Vertrag mit der Türkei, der dieses Gebiet als neue Provinz der Türkei zuschlug. Es folgten demografische Eingriffe, um die Mehrheitsverhältnisse der Bevölkerung in der Region zu verändern.

Der österreichische Schriftsteller Franz Werfel hat den Armenier:innen in Hatay mit seinem tausendseitigen Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ (1933) ein literarisches Denkmal gesetzt. In Antakya, dem antiken Antiochia, gab es seit 2400 Jahren eine jüdische Gemeinde. Bei dem Erdbeben vom 6. Februar kamen der Gemeindevorsteher und seine Frau ums Leben, die übrigen, meist sehr alten Mitglieder wurden von Hilfsorganisationen nach Istanbul gebracht.

Das heutige Hatay ist von seiner Nähe zu der türkisch-dschihadistisch kontrollierten Zone in Nordsyrien geprägt. Die Provinz grenzt an Efrîn und Idlib und ist Ausgangspunkt für Militärbewegungen der türkischen Armee. Über Hatay hat die Türkei auch dschihadistische Söldnertruppen aus Syrien nach Libyen verschifft. Das seit 2018 besetzte Efrîn fällt in den Zuständigkeitsbereich des Gouverneurs von Hatay.