Der türkische Regimechef Erdoğan verklagte in den vergangenen sechs Jahren 38.581 Menschen wegen „Beleidigung des Präsidenten“. Im Vergleich dazu hatten die fünf Präsidenten vor ihm 1.816 solcher Klagen eingereicht.
Präsidentenbeleidigung war bereits seit Gründung der türkischen Republik ein allseits verbreitetes Mittel der Repression. Unter der Herrschaft von Tayyip Erdoğan (AKP) erreichte diese Form der politischen Verfolgung jedoch völlig neue Dimensionen. In den vergangenen sechs Jahren seiner Präsidentschaft wurden einem Oppositionsbericht zufolge 38.581 Klagen wegen Präsidentenbeleidigung eingereicht. Demzufolge hatten die fünf Präsidenten vor Erdoğan insgesamt nur 1.816 solcher Verfahren einleiten lassen. Damit hat Erdoğan die Gesamtzahl der Klagen seiner fünf Vorgänger ums Zwanzigfache übertroffen. Erdoğans in Ungnade gefallener Amtsvorgänger und Parteikollege Abdullah Gül hatte in sieben Jahren nur 848 solcher Verfahren anstrengen lassen.
Aufgrund von Neuerfassungen fallen die Zahlen höher aus als in früheren Statistiken angegeben. Für die vergangenen drei Jahre sieht die Bilanz folgendermaßen aus:
2018: 2.775 der 6.270 Angeklagten wurden verurteilt.
2019: 4.291 der 13.990 Angeklagten wurden verurteilt.
2020: 3.665 der 9.773 Angeklagten wurden verurteilt
Der Paragraf 299, der sich mit der Beleidigung des Staatsoberhaupts befasst, wurde in der Geschichte der Türkei immer mehr erweitert und verschärft. Zuletzt wurde das Strafmaß auf bis zu vier Jahren Haft festgelegt. Für oppositionelle Politiker:innen und Medienschaffende kann die Strafe sogar noch höher ausfallen – obwohl die türkische Verfassung gleichzeitig die Meinungs- und Pressefreiheit als hohes Gut definiert.
Zahl der Verfahren seit vermeintlichem Putschversuch in die Höhe geschnellt
Aus der Statistik ist ersichtlich, dass die Anzahl der Verurteilungen wegen Präsidentenbeleidigung vor allem seit dem vermeintlichen Putschversuch im Sommer 2016 rapide angestiegen ist und mit der zunehmenden Regimekrise exponentiell weiter steigt:
2016: 884
2017: 2.099
2018: 2.775
2019: 4.291
Der Artikel 299 stellt ein breit moniertes Mittel der politischen Repression dar. Sowohl die Europäische Union als auch die Venedig-Kommission, eine Einrichtung des Europarates, die Staaten verfassungsrechtlich berät, fordern schon lange aufgrund der Häufung der Fälle den Artikel 299 aus dem türkischen Strafgesetzbuch zu streichen. Bislang weigert sich die Regierung in Ankara.