Das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V. (Civaka Azad) warnt vor einem neuen Krieg der Türkei in Nord- und Ostsyrien. In einem neuen Newsletter schreibt die Organisation:
Das war absehbar: Ein Wahlsieg Erdoğans würde die Gefahr weiterer türkischer Militäroffensiven in Nord- und Ostsyrien erheblich erhöhen. Seit dem 7. Juni erleben wir nun eine deutliche Zunahme der Drohnenangriffe des türkischen Staates auf die Gebiete der Selbstverwaltung. Der Drohnenterror der Türkei in Nordsyrien hat innerhalb einer Woche 17 Menschenleben gekostet. Mindestens drei Zivilist:innen und insgesamt 14 Kämpfer:innen der HRE, der YPG und des Militärrates von Minbic sind durch gezielte Drohnenangriffe getötet worden. Zudem gibt es zahlreiche Verletzte, darunter auch Kinder. Am Freitag wurde zudem ein Krankenhaus in Tel Rifat mit Granaten beschossen, vier Menschen wurden teilweise schwer verletzt. Diese Angriffe könnten der erste Schritt einer neuen Eskalationsspirale sein, die letztlich zu weiteren völkerrechtswidrigen Kriegseinsätzen der Türkei gegen Nord- und Ostsyrien führen könnte.
Das Schweigen Russlands ist bemerkenswert
Derzeit scheint Erdoğan die Grenzen des Möglichen auszuloten. So wurden vor wenigen Tagen bei einem türkischen Angriff ein russischer Soldat getötet und drei weitere verletzt. Das Ganze ereignete sich am 12. Juni nördlich von Aleppo. Bei dem Angriff handelt es sich möglicherweise um einen Raketenbeschuss aus den türkisch besetzten Gebieten Nordsyriens. Andere Quellen sprechen hingegen von einem gezielten Drohnenangriff. Unter den Opfern der türkischen Angriffe seit Anfang vergangener Woche sind auch fünf syrische Soldaten. Doch weder aus Damaskus noch aus Moskau waren nach den Angriffen Proteste zu hören. Gerade das Schweigen Russlands ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, welche handfeste Krise der Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei über Syrien im Jahr 2015 zwischen beiden Ländern ausgelöst hatte.
Damaskus hat andere Prioritäten
Das AKP-Regime agiert seit seinem Wahlerfolg also mit einem neuen Selbstvertrauen in Syrien. Wohlwissend um die schwierige Lage Russlands in der Ukraine und die damit verbundene russische Zurückhaltung in Syrien, will die Türkei nun neue Spielräume für ihre Agenda in Nord- und Ostsyrien eröffnen. Das Hauptziel Ankaras ist klar: Die Zerschlagung der Autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien. Und dafür ist das Erdoğan-Regime bereit, den einstigen Erzfeind Baschar al-Assad für ein gemeinsames Vorgehen zu gewinnen. Doch auch Assad agiert nicht aus der Position eines in die Enge getriebenen Machthabers. Im Gegenteil: Er führt sein Land derzeit aus der internationalen Isolation. Syrien ist wieder Teil der Arabischen Liga und syrische Staatsvertreter waren gleich mehrfach zu Besuch in Saudi-Arabien, mit dessen Hilfe sie die internationalen Sanktionen gegen Syrien lockern wollen. Obwohl die Selbstverwaltung auch dem Assad-Regime ein Dorn im Auge sein dürfte, hat Damaskus derzeit andere Prioritäten: Es fordert von der Türkei einen bedingungslosen Rückzug aus Nordsyrien und will, dass Ankara seine Unterstützung für die verschiedenen islamistischen Gruppen im Land einstellt. Für die Türkei hingegen ist ein Rückzug aus Nordsyrien nicht vorstellbar, solange die Selbstverwaltung besteht.
Astana-Treffen am 21. Juni
Ob sich die zum Teil weit auseinander liegenden Positionen Ankaras und Damaskus' in absehbarer Zeit annähern, wird sich vielleicht schon in wenigen Tagen, genauer gesagt am 21. Juni, zeigen. Dann nämlich werden sich in der kasachischen Hauptstadt Astana die stellvertretenden Außenminister Russlands, der Türkei, des Iran und erstmals in diesem Format auch Syriens an einen Tisch setzen. Selbst wenn es sich wohl eher um ein technisches Treffen handeln dürfte, bei dem die verschiedenen Akteure ihre Positionen im Syrienkonflikt abstimmen wollen, ist die Zusammenkunft der vier Staaten vor allem für Russland ein Erfolg. Denn es ist ihm nicht nur gelungen, den Westen aus den Verhandlungen über die Zukunft Syriens herauszuhalten, sondern auch türkische und syrische Staatsvertreter wieder an einen Tisch zu bringen.
Autonomieverwaltung sitzt nicht mit am Tisch
Nicht am Tisch sitzen die Vertreter:innen der Autonomen Selbstverwaltung, und doch wird es bei dem Treffen auch um ihre Zukunft gehen. Die jüngste türkische Angriffswelle gegen sie macht deutlich, wie gefährdet das Gesellschaftsmodell im Norden und Osten Syriens ist. Das AKP-Regime hat bereits vor den Wahlen Orte wie Tel Rifat, Minbic und Kobanê zu den nächsten Zielen möglicher Bodenoffensiven erklärt. Ob diesen Drohungen in naher Zukunft Taten folgen, wird sich in den nächsten Tagen und Wochen zeigen.
Gerichtsprozesse gegen IS-Gefangene
Vor wenigen Tagen hatten die Verantwortlichen der Autonomen Selbstverwaltung zudem angekündigt, die Gerichtsprozesse gegen IS-Gefangene aufnehmen zu wollen. Dass kurz nach dieser Ankündigung die türkischen Angriffe im Norden und Osten Syriens intensiviert wurden, muss kein Zufall sein. Denn es wird erwartet, dass im Rahmen dieser Verfahren auch die jahrelange Unterstützung der Türkei für den sogenannten Islamischen Staat öffentlich nachgewiesen werden kann. Gleichzeitig will der türkische Staat mit seinen Angriffen auf die Bevölkerung Nord- und Ostsyriens das zu Ende bringen, was dem IS nicht gelungen ist - nämlich das selbstbestimmte und gleichberechtigte Leben der Kurd:innen, der Araber:innen, der christlichen Völker und aller anderen gesellschaftlichen Gruppen in der Region zu zerschlagen. Es gilt die weiteren Entwicklungen in der Region auf jeden Fall aufmerksam mitzuverfolgen.
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