Die Istanbuler CHP-Vorsitzende Canan Kaftancıoğlu ist im Justizgebäude in Istanbul verhaftet und in das neu eröffnete Frauengefängnis in Silivri überstellt worden. Wie ihr Rechtsbeistand mitteilt, soll die prominente Oppositionspolitikerin unter Führungsaufsicht wieder freigelassen werden.
Die Haftstrafe gegen die CHP-Politikerin von knapp fünf Jahren ist Mitte Mai vom Berufungsgericht bestätigt worden. Mit dem Urteil ist ein Politikverbot für fünf Jahre verbunden. Kaftancıoğlu war 2019 wegen einer Reihe von Vorwürfen zu fast zehn Jahren Haft verurteilt worden. Sie soll unter anderem „Terrorpropaganda“ verbreitet und Präsident Recep Tayyip Erdoğan beleidigt haben. Die Vorwürfe bezogen sich in erster Linie auf Einträge im Kurznachrichtendienst Twitter in den Jahren 2012 bis 2017. Die heute 50-Jährige hatte unter anderem den Tod des 14-jährigen Berkin Elvan durch eine Tränengas-Granate bei den regierungskritischen Gezi-Protesten in 2013 kritisiert.
Insbesondere wegen einer Twitter-Nachricht, die Kaftancıoğlu vorgeworfen wurde, ist sie auch regelmäßig von der Erdoğan-Partei AKP und der regierungsnahen Presse an den Pranger gestellt worden. Als am 9. Januar 2013 die kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez von einem Auftragsmörder des türkischen Geheimdienst MIT in Paris hingerichtet wurden, schrieb Kaftancıoğlu: „Sakine Cansız sagte einmal: ‚Die Geschichte der Menschheit beginnt mit der Frau. Die Menschheit ist die Verliererin angesichts dessen, was Frauen angetan wird.‘ Und wieder hat die Menschheit verloren.“
Wer ist Canan Kaftancıoğlu?
Canan Kaftancıoğlu solidarisiert sich immer wieder öffentlich mit sozialen Bewegungen. Die aus Ordu an der Schwarzmeerküste stammende Politikerin war bereits als Medizinstudentin in der Demokratiebewegung aktiv. Nach ihrem Studienabschluss 1995 arbeitete sie zunächst in Sêwas (tr. Sivas) als Ärztin, 1997 begann sie an der medizinischen Fakultät in Istanbul eine Ausbildung zur Gerichtsmedizinerin. Als solche bemühte sie sich insbesondere um die Aufklärung von Folterfällen in der Türkei. Seit 2011 übernahm Kaftancıoğlu verschiedene Aufgaben bei der CHP.
Nach der Niederschlagung der Gezi-Proteste gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks im Zentrum Istanbuls im Sommer 2013 schloss Kaftancıoğlu sich der „Bewegung Vereinigter Juni” an. Seitdem sie sich in der Politik engagiert, setzt sie sich zudem dafür ein, dass sich die Türkei ihrer negativen Vergangenheit stellt. Sie war maßgeblich an der Gründung der „Plattform für das gesellschaftliche Gedächtnis“ beteiligt. Als sie vor sechs Jahren die Armenienresolution des deutschen Bundestags unterstützte, wurde sie in der Türkei als „Vaterlandsverräterin” verleumdet.
Kaftancıoğlu gilt als die Architektin des überraschenden Wahlsiegs der CHP bei den Bürgermeisterwahlen in Istanbul im März und Juni 2019. Die Wahl musste wegen eines Einspruches der regierenden AKP wiederholt werden, worauf sich der Stimmenanteil des CHP-Kandidaten Ekrem Imamoǧlu sogar erhöhte. Nachdem die Metropole am Bosporus 25 Jahre von Erdogans AKP beziehungsweise ihren Vorgängerparteien regiert worden war, galt diese Wahl als bisher schwerste Niederlage Erdoğans.