Berliner Konferenz: Aufruf für eine andere Zukunft in der Türkei

Am Wochenende hat das von Exil-Oppositionellen gegründete „Demokratie-Bündnis“ in Berlin seine zweite Konferenz ausgerichtet. Namhafte Persönlichkeiten diskutierten Herausforderungen für eine Demokratisierung und damit eine andere Zukunft in der Türkei.

Am Wochenende hat das von Exil-Oppositionellen mit Hintergrund in der Türkei gegründete „Demokratie-Bündnis“ in Berlin seine zweite Konferenz ausgerichtet. Rund 200 namhafte Persönlichkeiten unterschiedlicher Disziplinen kamen zusammen, um in mehreren Gesprächsrunden unter dem Schlagwort „Demokratie und Freiheit“ über die Herausforderungen beim Neuaufbau einer demokratischen Türkei zu diskutieren und Lösungswege aufzuzeigen. Es handelte sich um die Folgeveranstaltung der Konferenz „Auf der Suche nach einem Gesellschaftsvertrag für eine demokratische Türkei“, die 2019 ebenfalls in Berlin durchgeführt worden war. Beendet wurde die Zusammenkunft mit der Vorlegung einer Abschlussresolution.

An der Konferenz haben dutzende geladene Vertreterinnen und Vertreter der breiten gesellschaftlichen Opposition aus der Türkei und Kurdistan teilgenommen, darunter die der kurdischen, assyrischen, armenischen, ezidischen und alevitischen Gemeinschaften. Darüber hinaus bot die Konferenz auch zivilgesellschaftlichen Organisationen und anderen Initiativen eine Plattform. Analysiert wurden vor allem die Hindernisse bei der Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse und in der Phase des Neuaufbaus.

Autokratisches Regieren bringt organisierten Widerstand mit sich

„In Zeiten von weltweiten Völkerrechtsbrüchen, Besatzungen und Kriegen wurde hier Frieden gefordert“, hieß es in der vom Exil-Journalisten Can Dündar, der zu den über fünfzig Aufrufenden der Konferenz gehört, vorgetragenen Abschlusserklärung. Autokratisches Regieren bringe eben organisierten Widerstand mit sich und dieser habe sich in einer jener Hauptstädte getroffen, die die Wunden des Krieges wohl am besten kenne. „Seit die erste Konferenz vor zweieinhalb Jahren einberufen wurde, beobachten wir – auch angesichts der bevorstehenden Wahlen in der Türkei – einen zunehmenden Druck auf die Opposition, die wiederum mit neuen Formen des Widerstandes dagegenhält. Mit der Ukraine rückte die seit langem andauernde autokratische Politik der Türkei wieder auf die Tagesordnung. Es wurde wieder deutlich, wie groß die Bedrohung aggressiver Herrschaft und Besatzungspolitik für Menschen ist“, sagte Dündar.

Drei Sitzungen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Türkei

An Tag eins wurden in drei Sitzungen die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Türkei diskutiert. Im Rahmen der ersten Session beschäftigten sich die Teilnehmenden unter dem Titel „In welcher Situation befinden wir uns?“ mit der Erstellung einer „Schadensbilanz“. Es wurde festgehalten, dass das „mafiöse Ein-Mann-Regime“ von Recep Tayyip Erdogan zur Zerstörung der Institutionen, zu Zusammenbruch und Entfremdung führe. Angehörige aller Minderheiten und unterdrückten Völker würden täglich und mit zunehmender Gewalt terrorisiert. Es gebe keine Institution, keine soziale Struktur und keinen Ort, der nicht von Homogenisierung und politischer Unterdrückung betroffen wäre. „Während die Gesellschaft mit Armut bestraft wird, werden Justiz, Medien, Wissenschaft, Gesundheit, Wirtschaft, Bildung, Kultur und Kunst in Schutt und Asche gelegt. Von den ‚Akademiker:innen für Frieden‘ bis hin zu denen, deren Arbeitsverhältnisse durch die Notstandsverordnungen beendet wurden, wurden viele Menschen damit bestraft, aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen worden zu sein. Jeglichen Institutionen, insbesondere Kommunen und Universitäten, wurde ihr selbstständiges Verwaltungsrecht mittels der Zwangsverwaltung entrissen. Mit der Geisel- und Isolationspolitik wurde die Inhaftierung in dauerhafte Gefangenschaft umgewandelt. Natur und Lebensräume werden geplündert. Mit der zunehmenden Abwanderung von Fachkräften wird der intellektuelle Reichtum der Türkei systematisch verödet. Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung, Gewalt gegen Frauen, Kinder und LGBTQ+ nehmen von Tag zu Tag zu. In einer solchen Zeit schuf die politische Führung des Landes mit dem Rückzug aus der Istanbul-Konvention die Legitimationsgrundlage für Morde.“

Die Suche nach Auswegen

Die zweite Session befasste sich mit der „Suche nach Auswegen“ aus diesem unterdrückerischen Umfeld und wurde den vorliegenden Programmen und Vorschlägen politischer Parteien, Institutionen und zivilgesellschaftlicher Organisationen gewidmet. Trotz der schweren Schäden, die insbesondere in den letzten 20 Jahre angerichtet wurden, gebe es in der Türkei immer noch eine Tradition des Kampfes. Besonders hervorgehoben wurde, dass der entschlossene Wille der Menschen, die sich der Unterdrückung widersetzten – insbesondere mit den Erfolgen in der Kommunalpolitik, den endgültigen Absturz stoppen und eine Hoffnung für morgen schaffen konnte. Konkretisiert habe sich diese Hoffnung in der Entwicklung demokratischer Bündnisse, vor allem durch die aktive Rolle von Arbeiterorganisationen, Frauenbewegungen und der ökologischen Opposition in diesem Prozess. Gewürdigt wurde auch die Solidarität des Widerstands in der Türkei mit Umbrüchen im Rest der Welt, besonders den Freiheitskämpfen in Lateinamerika, die dort zu Veränderung führten.

Wege zu einer demokratischen, freiheitlichen und gleichberechtigten Gesellschaft

Die letzte Sitzung „Aufbau der Zukunft“ führte durch Beiträge und Gesprächsrunden darüber, wie sich eine demokratische, freiheitliche und gleichberechtigte Gesellschaft in der Türkei nach der „Trümmerbeseitigung“ entwickeln kann. Es wurde die Notwendigkeit eines kollektiven Gründungswillens „von unten nach oben“ geäußert. Als eine der Hauptforderungen wurde die Befreiung der politischen Gefangenen und besonders der kranken Inhaftierten, die unter menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten werden, sowie die Aufhebung von politisch motivierten Urteilen und die damit einhergehende Folgenbeseitigung formuliert. Die Aufmerksamkeit wurde auf die Wiederherstellung der Aufsichts- und Ausgleichsinstitutionen, die Wiederherstellung einer unabhängigen Justiz, eines effektiven Parlaments, einer freien Presse, einer autonomen Universität und einer starken Zivilgesellschaft gelenkt. Die Notwendigkeit einer dezentralen Struktur, die lokale Politik auf der Grundlage von Partizipation und Konsens priorisiert, anstatt einer zentralen Organisation, die auf einer Ein-Mann-Diktatur basiert, wurde gleichermaßen betont wie die Wichtigkeit, Lösungen für Konflikte gemeinsam mit den Gesprächspartnern zu suchen.

Am zweiten Tag der Konferenz wurden drei Arbeitskreise gebildet:

Die Arbeitsgruppe „Diplomatie und Medien“ konzentrierte sich auf Schritte, um die auf der Konferenz getroffenen Entscheidungen anderen Völkern der Welt, ihren politischen Kreisen und Medien zu vermitteln und die andere Seite der Türkei aufzuzeigen.

Die Arbeitsgruppe „Öffentlichkeitsarbeit“ diskutierte Wege, den Willen von 200 Menschen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, zu teilen und Solidarität zu erfahren. Es wurde beschlossen die Forderung nach Frieden, Demokratie und Freiheit mit Demokratiefestivals, Foren und Konzerten bekannt zu machen.

Die Arbeitsgruppe „Recht und Gerechtigkeit” befasste sich mit der Frage der Errichtung von Mechanismen, durch die Dokumentation rechtswidriger Gerichtsurteile die internationale Öffentlichkeit über Ungerechtigkeiten in der Türkei zu informieren und Lösungen für die juristischen Probleme von Exilanten sowie Rechtsverletzungen zu finden.

Entschlossen, weiterhin gemeinsam zu kämpfen

Alle der rund 200 Teilnehmenden der Konferenz für Demokratie und Freiheit zeigten die dringende Notwendigkeit von Solidarität sowie die Entschlossenheit, gemeinsam zu kämpfen. Nach den Worten einer Friedensmutter war die Zusammenkunft gerade auch wegen der gemeinsamen Verfolgungserfahrungen von einem Ansatz beispielloser Empathie geprägt – Platz für Hass gab es nicht. Die Fortsetzung des geschaffenen Klimas aus Einheit und Solidarität, die Ausweitung des Bündnisses und des kollektiven Widerstands – mit der Entschlossenheit, nicht nur bis zum Ende der Unterdrückung gemeinsam zu kämpfen, sondern bis die Demokratisierung der Türkei und der soziale Frieden, nach dem sich alle sehnen, erreicht ist, wurde sich ebenso auf die Fahne geschrieben wie die Hoffnung, die dritte Konferenz nicht mehr im Exil, sondern in der Türkei einzuberufen.

Hinweis: Videobeiträge zur Konferenz sind auf dem Youtube-Kanal von Ozguruz.org abrufbar