In Ankara ist ein weiterer Schauprozess gegen den kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş fortgesetzt worden. Verhandelt wird in dem Verfahren an der 25. Schwurgerichtskammer Ankara eine behauptete Beleidigung des beklagten Ex-Vorsitzenden der HDP gegenüber Yüksel Kocaman, dem ehemaligen Chefankläger der Hauptstadt, der inzwischen an den Kassationsgerichtshof befördert wurde. Yüksel hatte Demirtaş wegen vermeintlicher Bedrohung und öffentlicher übler Nachrede gegenüber einem Beamten angezeigt. Bei einer Verurteilung drohen dem Politiker bis zu acht Jahre Haft.
Grundlage des Verfahrens: Anzeige von Chefankläger in Ankara
Hintergrund des Verfahrens ist eine angebliche Aussage von Demirtaş, die er im vergangenen September im Rahmen eines Mandantengesprächs mit seinem Anwalt Cahit Kırkazak geäußert haben soll. Bezüglich der kurz zuvor medial verbreiteten Fotos der Hochzeit Yüksels im Sheraton in Ankara, an der neben Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan unter anderem auch der Vorsitzende des Kassationshofs, der Justizminister, der Innenminister, der Generalstabschef und der Vorsitzende der Wahlkommission zu Gast waren, hätte Demirtaş gesagt: „Es gab eine Zeit, als Staatsanwälten sogar gepanzerte Panzerfahrzeuge geschenkt wurden. Dennoch gelang es ihnen nicht, sich der Justiz zu entziehen. Die Geschenktüten, die euch jemand in die Hände drückt, werden euch ebenfalls nicht vor Strafverfolgung bewahren.“ Damit habe Demirtaş den Staatsanwalt als „Person in einem Amt für Antiterrorbekämpfung“ bei „Anhängern von Terrororganisationen zur Zielscheibe“ gemacht.
Nicht persönlich anwesend, trotz Anordnung
Bei der heutigen Verhandlung war Demirtaş nicht persönlich anwesend. Stattdessen wurde er wieder per Videoschaltung aus dem Hochsicherheitsgefängnis im westtürkischen Edirne eingebunden, obwohl beim letzten Prozesstag seine persönliche Anwesenheit angeordnet worden war. Zahlreiche Persönlichkeiten aus der Politik und Zivilgesellschaft beobachteten den Prozess im Gerichtssaal, darunter die HDP-Abgeordneten Pero Dündar, Filiz Kerestecioğlu, Ali Kenanoğlu, Zeynel Özen, Hüseyin Kaçmaz und Murat Çepni, der stellvertretende EMEP-Vorsitzende Selman Gürkan und Mitglieder der HDP-Rechtskommission.
Demirtaş: Verfahren ist ein Komplott
Demirtaş bezeichnete das Verfahren gegen ihn als „Komplott“, in die Anklageschrift seien auch Äußerungen geflossen, die nicht von ihm stammten. „Mein Rat an das Gericht ist; wenn Sie Teil dieses Putschs sein wollen, reicht meine einfache Bestrafung nicht aus. Denn dies wird Erdoğan nicht zu Stimmen verhelfen. Sie müssen schon jedes Dorf einzeln aufsuchen“, sagte Demirtaş mit Blick auf das Richterpult. Irgendwann würde sich die Welt aber wieder drehen. „Dann werden auch Sie Rechenschaft ablegen“, ergänzte der 47-Jährige. Gegen den Politiker wurden in seiner Zeit als Parlamentsabgeordneter 1.148 Ermittlungsakten angelegt. Insgesamt wurde in seiner politischen Karriere rund 1.300 Mal gegen ihn ermittelt.
Kocaman und Erdoğan kennen sich aus dem Gefängnis
Yüksel Kocaman und Recep Tayyip Erdoğan kennen sich schon länger. 1999 kam der AKP-Chef ins Gefängnis, nachdem er ein volksverhetzendes Gedicht zitierte. Kocaman war damals der für die Vollzugsanstalt Pınarhisar in Kırklareli zuständige Staatsanwalt, in der Erdoğan drei Monate lang einsaß. Außerdem stammt die Anklageschrift im aktuellen Beleidigungsprozess aus seiner Feder. Auch jetzt wieder bemängelten die Demirtaş-Anwälte, dass es gegen die Rechtsprechung verstoße, „Opfer“ und Ankläger zu sein. Dies zeige, dass dem Verfahren kein objektiver Maßstab zugrunde liegt. Darüber hinaus gilt Kocaman als der Staatsanwalt, der nach dem EGMR-Urteil die Freilassung von Demirtaş verhinderte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte im November 2018 erstmals entschieden, dass die Untersuchungshaft von Demirtaş unrechtmäßig ist. Dieses Urteil wurde durch eine Ad-hoc-Verurteilung in einem der zahllosen Strafverfahren gegen den kurdischen Politiker unterlaufen. Im Dezember 2020 befasste sich die Große Kammer des Straßburger Gerichts mit dem Fall und ordnete erneut die Freilassung Demirtaşs an. Auch diese Entscheidung wird von der türkischen Justiz ignoriert.
Prozess auf 7. Mai vertagt
Wie bereits bei der letzten Verhandlung und beim Prozessauftakt lehnte das Gericht aus jetzt wieder einen Befangenheitsantrag gegen die Richter ab. Zur Begründung hieß es, der Angeklagte bezwecke damit, die Verfahrensdauer in die Länge zu ziehen. Die Verteidiger Demirtaşs haben angekündigt, sich für ein Ablehnungsgesuch an eine höhere Instanz zu wenden. Der Prozess wurde auf den 7. Mai vertagt.
Seit vier Jahren als politische Geisel im Gefängnis
Selahattin Demirtaş ist seit über vier Jahren im Gefängnis. Der damalige HDP-Vorsitzende wurde am 4. November 2016 zeitgleich mit zahlreichen weiteren kurdischen und linken Politiker*innen festgenommen und anschließend inhaftiert. Im September 2019 wurden die Haftbefehle gegen Demirtaş und die Ko-Vorsitzende Figen Yüksekdağ überraschend aufgehoben. Auf Betreiben des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan wurde jedoch ein erneuter Haftbefehl erwirkt. Erdoğan erklärte dazu: „Wir können sie nicht freilassen. Die haben das Parlament infiltriert. Unsere Nation vergisst diejenigen nicht, die die Menschen auf die Straßen gerufen und unsere Söhne ermordet haben. Wir werden sie bis zum Letzten verfolgen und niemals ablassen.“