In Ankara ist einer von vielen Beleidigungsprozessen gegen den kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş fortgesetzt worden. Gegenstand des am Freitag verhandelten Verfahrens ist eine Anzeige wegen vermeintlicher Bedrohung und öffentlicher übler Nachrede gegenüber einem Beamten. Beim vermeintlichen Opfer handelt es sich um den Chefankläger der türkischen Hauptstadt, Generalstaatsanwalt Yüksel Kocaman, der zugleich Ankläger im Prozess gegen Demirtaş ist. Allein diese Tatsache zeige, dass dem Verfahren kein objektiver Maßstab zugrunde liegt, erklärte dessen Rechtsbeistand und forderte wie bereits beim Prozessauftakt im November die Einstellung des Verfahrens und Freispruch. Der Antrag wurde abgelehnt.
Hintergrund der Anzeige von Kocaman gegen Demirtaş ist eine Aussage des ehemaligen HDP-Vorsitzenden, die er im September im Rahmen eines Mandantengesprächs mit seinem Anwalt Cahit Kırkazak geäußert haben soll. Bezüglich der kurz zuvor medial verbreiteten Fotos der Hochzeit des Staatsanwalts im Sheraton in Ankara, an der neben Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan unter anderem auch der Vorsitzende des Kassationshofs, der Justizminister, der Innenminister, der Generalstabschef und der Vorsitzende der Wahlkommission zu Gast waren, habe Demirtaş gesagt: „Die Geschenktüten, die euch jemand in die Hände drückt, werden euch nicht vor Strafverfolgung bewahren.“ Damit habe Demirtaş den Staatsanwalt als „Person in einem Amt für Antiterrorbekämpfung“ bei „Anhängern von Terrororganisationen zur Zielscheibe“ gemacht.
Kocaman hat die umstrittene Anklageschrift in diesem Verfahren selbst verfasst. Zudem gilt er als der Staatsanwalt, der nach dem EGMR-Urteil die Freilassung des 47-Jährigen verhinderte. Im aktuellen Beleidigungsprozess wird eine Haftstrafe zwischen drei und acht Jahren für Demirtaş gefordert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hatte im November 2018 erstmals entschieden, dass die Untersuchungshaft von Demirtaş unrechtmäßig ist. Dieses Urteil wurde durch eine Ad-hoc-Verurteilung in einem der zahllosen Strafverfahren gegen den kurdischen Politiker unterlaufen. Im Dezember 2020 befasste sich die Große Kammer des Straßburger Gerichts mit dem Fall und ordnete erneut die Freilassung Demirtaşs an. Auch diese Entscheidung wird von der türkischen Justiz ignoriert.
Der seit mehr als vier Jahren im Hochsicherheitsgefängnis Edirne inhaftierte Politiker Selahattin Demirtaş war nicht persönlich im Gerichtssaal anwesend, sondern wurde über eine Videoschaltung eingebunden. Mit Verlesen des geforderten Strafmaßes kam es zu heftigen Protesten, da in der Anklageschrift behauptet wird, Demirtaş sei Mitglied „der Terrororganisation PKK/KCK“. Der frühere Ko-Vorsitzende der HDP und renommierte Menschenrechtsanwalt, der jahrelang die Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD in Amed leitete, kündigte an, Anzeige gegen Yüksel Kocaman wegen Verleumdung zu erstatten. Der Prozess wurde auf den 9. April vertagt, das Gericht ordnete das persönliche Erscheinen von Demirtaş an.