Im Jahr 2019 startete der türkische Staat eine neue Form der psychologischen Kriegsführung gegen die kurdische Freiheitsbewegung. Der türkische Staat versuchte, den zivilgesellschaftlichen Widerstand der kurdischen Freiheitsbewegung in seiner eigenen Form zu reproduzieren. Da jedoch keine Basis bestand, um Kundgebungen und Dauermahnwachen vor HDP-Büros zu organisieren, musste der Staat auf Zwang, Gewalt und Bestechung zurückgreifen. Familienmitglieder von Guerillakämpfer:innen wurden unter Druck gesetzt, sich vor die Gebäude der Demokratischen Partei der Völker (HDP), insbesondere in Amed (tr. Diyarbakır), zu setzen, um dort „ihre Kinder“ zurückzufordern. Auf diese Weise versuchte die türkische Regierung, einerseits die Gleichsetzung von HDP und Guerilla zu etablieren und andererseits ein Narrativ zu verbreiten, die Guerilla hätte diese Menschen – häufig Kommandant:innen in den Reihen der Guerilla – verschleppt.
Die Familienangehörigen wurden teilweise mit dem Tod bedroht, teilweise mit Geld gelockt, damit sie sich an den inszenierten „Protesten“ beteiligen. Die meisten Familien weigerten sich jedoch und wurden immer massiverem Druck ausgesetzt. Eine dieser Familien ist die von Mehmet Emin Elma aus dem Dorf Marinê im Landkreis Nisêbîn (tr. Nusaybin). Die Familie Elma ist aufgrund der Repression durch den türkischen Staat nach Istanbul migriert. Dort war sie massivem staatlichen Druck ausgesetzt, weil mehrere ihrer Angehörigen Guerillakämpfer:innen sind.
Mehmet Emin Elma berichtet im ANF-Interview darüber, wie er und seine Verwandten unter Druck gesetzt wurden, um sich an den „Mahnwachen“ vor den HDP-Gebäuden zu beteiligen.
Könnten Sie bitte sich und ihre Familie zunächst einmal vorstellen?
Ich bin 46 Jahre alt und stamme aus Nisêbîn in der Provinz Mêrdîn. Die Menschen in meinem Dorf sind ihrer eigenen Sprache, Kultur und Geschichte tief verbunden. Im Dorf wird vor allem nach freiheitlichen Normen gelebt. Es handelt sich um ein patriotisches Dorf. Der Preis für diese Liebe und Hingabe ist natürlich hoch, und unser Dorf hat ihn, ohne zu zögern, bezahlt. Alle einzelnen, soweit ich denken kann, haben das getan. Unsere Familie besteht aus elf Personen. Ich habe meine Kindheit in diesem Dorf verbracht.
In den 1990er Jahren verstärkte sich der Druck auf viele Familien in unserem Dorf. Der Staat führte das Dorfschützersystem ein und versuchte die Bewohner dazu zu zwingen, als Spitzel zu arbeiten. Dass sich meine Schwester der revolutionären Bewegung angeschlossen hat, war eine Folge der Wut darüber. Die türkischen Truppen erklärten: „Entweder du wirst Dorfschützer oder du verlässt das Dorf.“ Die Dorfbewohner wurden gefoltert. Wir durften nicht einmal unsere Habseligkeiten mitnehmen. Wir zogen zunächst in ein nahe gelegenes Dorf und dann nach Istanbul. In Istanbul hatten wir aufgrund unserer Identität große Schwierigkeiten, eine Wohnung zu mieten, und waren dort mit ähnlichen Zwängen konfrontiert. Auch dort hielten wir es nicht aus. Im Jahr 2000 zogen wir in ein Dorf in der Nähe unseres Dorfes. Auch nach unserer Rückkehr hat sich die Haltung des Staates uns gegenüber nicht geändert. Wir wurden 2009 gezwungen, nach Êlih (tr. Batman) umzuziehen. Dort habe ich mich an allen möglichen Aktivitäten und an der politischen und sozialen Arbeit beteiligt. Ich war in der Vereinigung der Gefallenen tätig.
Festnahme und versuchte Spitzelanwerbung
An welchen HDP-Aktivitäten haben Sie teilgenommen und was hat zu Ihrer Verhaftung geführt?
Im Jahr 2011 zogen wir nach Istanbul. Ich war im HDP-Bezirksverband Zeytinburnu aktiv. Am 13. Oktober 2019 wurde in Beşiktaş eine Halle für die Feier des siebten Jahrestages der Gründung der HDP gemietet. Aber auf Anweisung des Gouverneurs wurde die Veranstaltung einen Tag vor dem Termin verboten. Ich wollte als HDP-Vertreter von Zeytinburnu daran teilnehmen. Wir versammelten uns im Gebäude der HDP in Beşiktaş, um eine Presseerklärung abzugeben. Als wir nach der Presseerklärung gingen, wurden wir von der Polizei angegriffen. Ich rief Parolen, die den Widerstand von Rojava begrüßten. Es waren Parolen, die unsere Forderungen nach Frieden und dem Ende des Krieges beinhalteten. Die Polizei griff uns mit Gasgranaten an und ich fand mich unter den Knüppeln der Polizei wieder. Meine Hände wurden mit Kabelbindern auf dem Rücken gefesselt. Ich wurde zusammen mit neun weiteren Personen festgenommen. Wir wurden unter Knüppelschlägen und Beleidigungen auf die Polizeiwache gebracht.
„Was haben Sie mit den Terroristen zu tun?“, fragten sie mich während des Verhörs. Ständig wurden wir beleidigt und bedroht. Die Polizisten fragten immer wieder, wer ich sei. Sie sagten, sie wüssten, dass wir die Gebeine meiner gefallenen Schwester wollten, und fragten, wo mein Bruder Orhan sei. Sie wollten, dass ich ihnen Informationen über meine Partei gebe und mit der Polizei zusammenarbeite. Während sie mich einzuschüchtern versuchten, indem sie sagten: „Glauben Sie, wir wissen nicht, was Sie tun?“, wiederholten sie immer wieder, dass sie mich beschützen und mir im Gegenzug für Informationen Geld geben würden. Andernfalls, so sagten sie, würden sie mich in den kalten Mauern von Silivri verrotten lassen. Am nächsten Morgen brachten sie mich und eine weitere Person zu einer anderen Polizeistation und vor den Haftrichter. Dort wurde ein Haftbefehl ausgestellt. Wir wurden in Einzelzellen untergebracht und mussten eine Leibesvisitation über uns ergehen lassen. Wir wurden gezwungen, zu den „unabhängigen“ Gefangenen zu gehen. Spät in der Nacht wurden wir durch Klopfen an den Gitterstäben gestört, mussten laute rassistische Musik hören und wurden zum militärischen Zählappell gezwungen. Nach viereinhalb Monaten in Silivri wurde ich auf Gerichtsentscheid freigelassen, das Verfahren ist aber noch nicht abgeschlossen.
Wer hat Sie aufgefordert, sich vor das HDP-Gebäude in Amed zu setzen und Ihren Bruder, der Guerillakämpfer ist, aufzufordern, sich zu ergeben?
Eines Tages erhielt ich einen anonymen Anruf: „Kann ich Herrn Mehmet sprechen?“, fragte die Person. Bevor ich fragen konnte, was los ist, erschrak ich, als der Anrufer sagte: „Ich rufe von der Militärpolizei der Provinz Mardin wegen Orhan an.“ Ich fragte mich, ob er gefallen war und ob es darum ging. Aber die Frage „Haben Sie Neuigkeiten?“ ließ mich aufatmen. Ich antwortete „Nein“. Er fuhr fort: „Wir laden Sie zu der Mahnwache zur Rettung ihrer Kinder ein. Diese Mahnwache wurde mit Unterstützung unseres Innenministers Süleyman Soylu ins Leben gerufen. Lasst uns zusammen unsere Kinder retten.“
„Du dreckiger Terrorist“
Ich fragte: „Was für eine Mahnwache, ich verstehe nicht?“ Die Stimme auf der anderen Seite fuhr wie folgt fort: „Ich spreche von dem von Mutter Hacire initiierten Zeltprotest vor dem HDP-Provinzverband in Diyarbakır. Dieser Protest hat dazu beigetragen, dass viele Familien wieder mit ihren Kindern vereint werden konnten. Unser verehrter Minister erwartet Sie ebenfalls. Wir werden für Unterkunft, Reisekosten und finanzielle Unterstützung sorgen; machen Sie sich darüber keine Gedanken.“ Als ich antwortete: „Hat die HDP denn unsere Kinder [in die Berge] geschickt, so dass wir sie von ihr zurückfordern können?“ Da begann er zu schreien: „Ihr seid Terroristen. Orhans Kadaver wird dich bald ebenso erreichen wie die Knochen deiner Schwester. Ich lade dich freundlich ein, aber du verstehst nichts von Freundlichkeit. Dich sollte man auslöschen, du dreckiger Terrorist.“ Nach diesen Worten legte er auf. Sie riefen noch mehrere Male mit denselben Drohungen und Beleidigungen an.
Ich habe auch vier Anrufe von der Militärpolizei der Provinz Şirnex erhalten. Es war eine Beamtin, die mich anrief. Sie fragte mich: „Kann ich Herrn Mehmet sprechen?“ Ich sagte: „Ja, bitte.“ Dann sagte sie: „Ich rufe von der Militärpolizei der Provinz Şırnak an, ich möchte Ihnen ein paar Fragen zu Ihrem Bruder Orhan stellen; haben Sie von ihm gehört?“ Ich sagte: „Nein.“ Sie fragte mich, wo er im Moment sei, und ich sagte, ich wisse es nicht. Sie sagte: „Speichern Sie diese Nummer, und informieren Sie uns, wenn Sie etwas hören.“ Ich sagte „Okay“ und wir legten auf.
Eine Woche später rief dieselbe Mitarbeiterin zum dritten Mal an und stellte die gleichen Fragen. Sie rief unter der Telefonnummer „05394225424“ an. Das Datum des Anrufs war der 24. Januar 2022, 14.37 Uhr.
„Wir werden dich an einem Ort begraben, den niemand kennt“
Wie ging es weiter, als Sie die Drohungen immer noch nicht akzeptierten?
Wie ich eingangs erwähnte, war ich im Bezirksvorstand der HDP Istanbul-Zeytinburnu. Auf dem Weg zum Bezirksverband wurde ich von Leuten angehalten. Sie sagten: „Wir sind vom Geheimdienst, Sie sollten mit uns kommen, wir müssen mit Ihnen reden.“ Ich erklärte erneut, dass ich nicht mit ihnen reden wolle. Als ich das letzte Mal nach Esenler fuhr, musste ich eine Brücke benutzen, um die Straße zu überqueren. Drei Personen warteten auf der Brücke auf mich. Sie hielten mich an, sagten „Polizei“ und verlangten meinen Ausweis. Ich gab ihnen meinen Ausweis und sie zwangen mich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. Derjenige, der den Ausweis abnahm, sagte: „Okay, Sie sind es.“ Sie legten mir Handschellen an und hoben mich hoch. Als ich fragte: „Was machen Sie da, was ist mein Vergehen?“, sagten sie: „Wir werden Ihnen sagen, was Ihr Vergehen ist“, und setzten mich in ein Auto.
Zwei Personen stiegen mit mir hinten in den Wagen ein. Der Fahrer vor mir schimpfte und bedrohte mich ständig. Einer von ihnen forderte mich mit den folgenden Worten auf, Spitzel zu werden: „Sie verstehen keine Worte, wenn wir Sie um Informationen bitten, fragen Sie ‚welche Informationen?‘ und nehmen uns nicht ernst. Hören Sie, heute Abend werden Sie uns entweder Informationen geben oder wir werden Ihnen in den Kopf schießen. Wir werden Sie an einem Ort begraben, den niemand kennt. Es sind zwei Kader aus den Bergen gekommen, um eine Aktion zu organisieren. Wir wissen es, und Sie wissen es auch. Finden Sie heraus, wer sie sind, und übergeben Sie sie uns. Dann wird auch Ihr Leben gerettet werden.“ Als ich sagte, „Was für Kader, das weiß ich nicht“ wurde ich ins Gesicht geschlagen. Sie drückten mir den Lauf einer Pistole an die Schläfe.
Dieselbe Person sagte: „Ich puste dir das Hirn weg. Du werden sie uns ausliefern, bevor etwas passiert.“ Da griff ein anderer Polizist ein. Er sagte: „Lasst uns ihm in den Kopf schießen und ihn loswerden.“ Das Auto hielt an, sie stießen mich aus dem Auto. Ich bin auf mein Gesicht gefallen. Sie hoben mich hoch, drückten mich mit dem Rücken an eine Wand, hielten mir eine Pistole an den Kopf und sagten: „Es gibt keinen Ausweg, du wirst diese beiden Kader ermitteln und sie uns ausliefern. Oder wir pusten dir dein Gehirn weg.“ Bevor ich sagen konnte: „Ich weiß nichts“, griffen sie mich mit Schlägen und Tritten in den Magen an.
In dieser Nacht konnte ich bis zum Morgen nicht schlafen. Als ich am Morgen zum Bezirksbüro der Partei ging, erzählte ich niemandem von dem Vorfall. „Ich bin gestürzt und mit dem Gesicht auf den Tisch aufgeschlagen“, sagte ich. Als ich am Abend nach Hause kam, fiel mir ein Taxi in unserer Straße auf. Ich sah, dass mich dieselben Polizisten aus dem Fahrzeug beobachteten. Als ich nach oben ging und aus dem Fenster des Hauses schaute, war das Taxi weg. Eine Woche später gab ich alles, was ich hatte, Schleppern, und reiste mit meiner Familie illegal ins Ausland. So wurde ich zum Flüchtling.
„Setzt euch nicht in diese Zelte des Verrats und der Schande“
Der türkische Staat versucht, Patrioten wie Sie für seine eigene schmutzige Politik zu benutzen. Haben Sie eine Botschaft an diese Familien, insbesondere für diejenigen, die vor den HDP-Gebäuden sitzen?
Zunächst einmal möchte ich sagen, dass einige der dort an den „Mahnwachen“ teilnehmenden Personen definitiv keine Kinder in der Guerilla haben, manche von ihnen haben überhaupt keine Kinder. Aber es gibt auch Familien, deren Kinder für die Freiheit des kurdischen Volkes kämpfen und die sich aufgrund ihrer Schwächen in einem schmutzigen und hässlichen Spiel gegen die Politik und die Vorreiter des Freiheitskampfes benutzen lassen. Würde ist jedoch das Wichtigste. Unsere Kinder und Geschwister [in den Bergen] akzeptieren diese Situation nicht und haben wiederholt ihre Familien aufgerufen: „Seid kein Werkzeug für diese schmutzige Politik.“ Wir sollten unsere Ehre nicht für schmutzige Politik einsetzen. Die Familien sollten nicht zulassen, dass die AKP sie zu Wahlkampfmaterial macht. Als aufrechte Familien sollten wir nicht zulassen, dass sie unseren Willen brechen. Setzt Euch nicht in diese Zelte des Verrats und der Schande.