Amnesty: Türkei muss Gewissensgefangene freilassen

Wegen der Infektionsgefahr durch die Covid-19-Pandemie fordern Amnesty International und weitere Organisationen die Türkei auf, politische Gefangene zu entlassen. Hintergrund sind Pläne der AKP, die Gewissensgefangenen von einer Amnestie auszuschließen.

In einem gemeinsamen Appell von Amnesty International und über 20 weiteren Organisationen wird die Türkei aufgefordert, politische Gefangene zu entlassen. Hintergrund sind Pläne der türkischen Regierung, wegen der Ausbreitung des Coronavirus eine Amnestie für rund 100.000 Gefangene zu erlassen. Es wird jedoch befürchtet, dass damit nicht Journalisten und Menschenrechtsaktivisten gemeint sind.

Die restlos überfüllten und unhygienischen Haftanstalten der Türkei stellen ohnehin eine ernsthafte Gesundheitsbedrohung für die Gefangenen dar. Die aktuelle Coronavirus-Pandemie werde diese Gefahr noch verschärfen, warnen die Organisationen:

Gemeinsamer Appell von Amnesty und über 20 weitere Organisationen an die türkische Regierung

Die hygienische Situation und Überbelegung in den Gefängnissen veranlasst die türkische Regierung, Tausende Gefangene freizulassen. Ob auch Gewissensgefangene freikommen werden, ist aber unklar.

Berichten zufolge treibt die türkische Regierung angesichts der Corona-Krise einen Gesetzesentwurf voran, der die Freilassung von bis zu 100.000 Gefangene ermöglicht. Das ist ein willkommener Schritt: Überbelegung und die desolate hygienische Situation in den Haftanstalten sind eine ernstzunehmende Bedrohung für die Gesundheit der Inhaftierten.

Amnesty International begrüßt das geplante Gesetz. Aber es besteht die Sorge, dass Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und andere Gefangene, die nur wegen der Wahrnehmung von Menschenrechten inhaftiert wurden, nicht freigelassen werden.

Amnesty und mehr als 20 weitere Organisationen rufen daher die türkische Regierung auf, auch die Gefangenen freizulassen, die nur deshalb inhaftiert sind, weil sie ihre Meinung geäußert oder friedlich protestiert haben.

Zu ihnen gehören Ahmet Altan, Selahattin Demirtaş und Osman Kavala.

Gesundheitsversorgung muss gewährleistet werden

Darüber hinaus müssen die türkischen Behörden auch die Akten von Personen in Untersuchungshaft im Hinblick auf Freilassungen prüfen. Nach den internationalen Menschenrechtsstandards gelten bis zu einem rechtsgültigen Verfahren die Unschuldsvermutung und das Recht auf Freiheit. Während Untersuchungshaft nur in unabdingbaren Fällen verfügt werden sollte, verordnen die türkischen Behörden Untersuchungshaft routinemäßig als Strafmaßnahme.

Die türkische Regierung muss auch die Freilassung von älteren Gefangenen und solchen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Betracht ziehen, weil diese durch den Coronavirus besonders gefährdet sind. In jedem Fall muss die Gesundheitsversorgung für alle Gefangenen gewährleistet sein und zwar im selben Masse wie für den Rest der Bevölkerung. Dazu gehören auch die Möglichkeit zur Prävention, Tests und Behandlung von COVID-19. Mitarbeiter*innen in den Gefängnissen und des Gesundheitswesens müssen informiert, ausgebildet und ausgerüstet werden, damit sie sich selbst vor einer Ansteckung schützen können.

Im aktuell geltenden türkischen Strafrecht können Gefangene vorzeitig entlassen werden, nachdem sie zwei Drittel ihrer Strafe verbüßt haben. Im Gesetzesentwurf, der in den nächsten Tagen vom Parlament verabschiedet werden soll, könnten Gefangene bereits nach der Hälfte des Strafmasses vorzeitig entlassen werden. Schwangere Frauen und Menschen über 60 mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen sollen unter Hausarrest gestellt werden können. Nur für eine geringe Anzahl von Straftaten, inklusive für als "Terrorismus" eingestufte Vergehen, ist die vorzeitige Strafentlassung nicht vorgesehen. Auch Personen in Untersuchungshaft und solche, die gegen ihr Urteil Rekurs erhoben haben, werden im neuen Gesetzesentwurf nicht berücksichtigt.

Gefährdete Menschenrechtsverteidiger*innen

Die türkische Anti-Terror-Gesetzgebung ist vage und wird oft dazu missbraucht, um Journalist*innen, Oppositionspolitiker*innen, Anwält*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Andersdenkende wegzusperren. Viele der Angeklagten werden während langer Zeit in Untersuchungshaft festgehalten und danach auf der Grundlage des Anti-Terrorgesetzes verurteilt – und zwar ohne dass Beweise dafür erbracht worden wären, dass die Angeklagten zu Gewalt aufgerufen oder eine illegalen Organisation unterstützt hätten.

Zu solchen Gefangenen gehören der Journalist und Schriftsteller Ahmet Altan, der kurdische Politiker Selahattin Demirtaş und der bekannte Geschäftsmann und Vertreter der Zivilgesellschaft Osman Kavala. Wie ihnen erging es viele weitere Akademiker*innen,

Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen. Demirtaş berichtete von Herzproblemen im Gefängnis, Altan und Kavala sind beide über 60 Jahre alt und gehören damit einer Risikogruppe für COVID-19 an. Diese Menschen sollten nicht im Gefängnis sein. Sie nun von einer möglichen Entlassung auszuschließen, würde das Unrecht, dass sie bis anhin erlitten haben, noch einmal verstärken.

Die Organisationen, die gemeinsam einen Appell an die türkische Regierung richten, rufen die türkische Regierung und das türkische Parlament auf, bei den geplanten Maßnahmen das Prinzip der nicht-Diskriminierung zu respektieren. Der Gesetzesentwurf zu den Maßnahmen gegen COVID-19 hätte sonst zur Folge, dass gewisse Gefangene aufgrund ihrer politischen Positionen davon ausgeschlossen würden.

Unterzeichnet von

ARTICLE 19

Punto24, Platform for Independent Journalism

Amnesty International

ARTICOLO 21 

Association of European Journalists (AEJ_

Cartoonists’ Rights Network International (CRNI)

Committee to Protect Journalists (CPJ)

Danish PEN

English PEN

European Centre for Press and Media Freedom (ECPMF)

European Federation of Journalists (EFJ)

Freedom House

Frontline Defenders

German PEN

Index on Censorship

Initiative for Free Expression – Turkey (IFoX)

International Press Institute (IPI)

IPS Communication Foundation/bianet

IFEX – the Global Network Defending and Promoting Free Expression

Norwegian PEN

Osservatorio Balcani e Caucaso Transeuropa (OBCT)

PEN Canada

Reporters Without Borders (RSF)

South East Europe Media Organisation (SEEMO)

Swedish PEN

Turkey Human Rights Litigation Support Project (TSLP)

Wan-Ifra/World Association of News Publishers