Die unlängst festgenommenen Mitglieder einer fünfzehnköpfigen Jugenddelegation aus Deutschland, Frankreich und Italien werden vermutlich noch heute aus der Türkei ausgewiesen. Eine Sprecherin vom Jugendzentrum für Öffentlichkeitsarbeit Ronahî äußerte gegenüber ANF, dass zumindest die Ankunft der deutschen Mitglieder der Delegation für diesen Samstag erwartet wird. Zuletzt befand sich die Gruppe in einem Abschiebezentrum in der nordwestlich von Istanbul gelegenen Provinz Kırklareli, wo ihre Mitglieder zudem misshandelt worden sein sollen. Außerdem wurden ihre Telefone konfisziert und Kontakt zu einem Rechtsbeistand unterbunden.
Auf Einladung der YSP in der Türkei
Der Vorfall um die internationalistische Delegation, der fünfzehn deutsche, französische und italienische Staatsangehörige angehören, sorgt für Aufregung. Die Gruppe befindet sich seit einer Woche auf Einladung des Jugendrates der Grünen Linkspartei (YSP) anlässlich eines Kongresses am 15. Oktober in der Türkei und besteht hauptsächlich aus Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen, die sich in ihrem Studium und ihrem Privatleben mit der politischen Situation in der Türkei und der kurdischen Frage befassen. Ziel ihrer Reise ist nach eigenen Angaben, sich ein Bild der Situation vor Ort zu verschaffen, die Lage nach den Wahlen besser kennenzulernen und durch eine Beteiligung an einem Kongress der YSP auch ein Zeichen der Solidarität mit der demokratischen Opposition in der Türkei zu setzen, da diese immer wieder mit behördlicher Willkür und rechtsstaatlich nicht haltbaren Maßnahmen konfrontiert ist.
Festnahmen bei verbotener Presseerklärung zu Angriffen auf Rojava
Nach Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern der Demokratischen Partei der Völker (HDP), dem Demokratischen Kongress der Völker (HDK), dem Frauenjournalistenverband Mesopotamiens (MGK) sowie MED TUHAD-FED, einem Solidaritätsverein der Familien politischer Gefangener, die die Delegation in den vergangenen Tagen in verschiedenen Regionen geführt hatte, reise die Gruppe am Donnerstag in die nordkurdische Provinzhauptstadt Riha (tr. Şanlıurfa), wo sie sich an einer Presseerklärung der HDP, YSP und weiterer Parteien gegen die Angriffe der türkischen Armee auf die Autonomieregion Nord- und Ostsyrien beteiligen wollte. Die Erklärung konnte nicht verlesen werden, da uniformierte Polizistinnen und Polizisten gewaltsam gegen die Beteiligten vorgingen und die Versammlung mit Verweis auf ein vom Gouverneursamt angeordnetes Verbot auflösten. Insgesamt 35 Personen wurden von der Polizei traktiert, teilweise mit Schlagstöcken niedergeknüppelt und in Arrestfahrzeuge geschleift.
Jurist: Rechtswidrige Prozedur und bodenlose Absurdität
Im Fall der fünfzehn Delegationsmitglieder begründeten die türkischen Behörden die Festnahmen unter anderem mit einem angeblichen Verstoß gegen das türkische Demonstrations- und Versammlungsgesetz Nr. 2911 und erklärten darüber hinaus, dass „Ausländern die Teilnahme an Pressekonferenzen oder ähnlichem untersagt“ sei. Der Jurist Ali Arslan, der die Internationalist:innen juristisch vertritt, bezeichnet die Festnahmen gegenüber der Nachrichtenagentur MA als „rechtswidrige Prozedur“ und sieht in der Begründung der Polizei eine bodenlose Absurdität. Unter anderem auch deshalb, weil der Vorwurf der „unberechtigten Nutzung und Weitergabe persönlicher Daten“ gegen die Mitglieder der Delegation ebenfalls im Raum stünde – offenbar im Zusammenhang mit Aufnahmen, die sie von dem Polizeieinsatz gemacht haben sollen. Die Anschuldigung beruht laut Arslan auf einem Erlass des damaligen türkischen Innenministers Süleyman Soylu aus dem Jahr 2021.
Erlass für verfassungswidrig erklärt und abgeschafft
Damals verbot die an das Ministerium gebundene Generaldirektion für Sicherheit mittels Rundschreiben jegliche audiovisuellen Aufzeichnungen von Bürgerinnen und Bürgern und Polizistinnen und Polizisten bei Demonstrationen. Zahlreiche Organisationen und Rechtsanwaltskammern reichten daraufhin Klagen gegen das Filmverbot bei Polizeieinsätzen ein – mit Erfolg. Noch im selben Jahr entschied der Staatsrat, dass der Vollzug des Rundschreibens auszusetzen sei. Das oberste Verwaltungsgericht der Türkei stellte in seinem Urteil fest, dass das Rundschreiben die Informations- und Pressefreiheit einschränke und wies darauf hin, dass Einschränkungen der Grundrechte nur in vom Gesetzgeber vorgesehenen Fällen verhängt werden können. Die Richter hielten fest, das Rundschreiben verstoße gegen Artikel 7 der türkischen Verfassung, nach dem jegliche Handlungen verboten sind, die keine Grundlage in der Verfassung haben, sowie gegen Artikel 13, der die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger schützt.
Völlige Willkür
„Damit wird die Festnahme und Ausweisung von ausländischen Bürgerinnen und Bürgern mit einem Erlass begründet, der abgeschafft worden ist, nachdem er von der Judikative für unrechtmäßig und verfassungswidrig erklärt wurde“, betonte Jurist Ali Arslan. Er erklärte darüber hinaus, dass die Aussage der Polizei, dass es Ausländern verboten sei, an Pressekonferenzen teilzunehmen, jeglicher rechtlicher Grundlage entbehre. „Das Recht sich zu versammeln und zu demonstrieren, gilt für jeden. Wir sprechen hier von einem Grundrecht, das durch internationale Konventionen geschützt ist und auch in der Verfassung der Türkei verbrieft wurde.“ Die türkische Polizei würde aus völliger Willkür heraus handeln, moniert Arslan. Er und weitere Kolleg:innen, die sich für die Delegationsmitglieder einsetzen, bereiten sich auf diverse Klagen gegen die zuständigen Behörden vor.