Vor dem 5. Schwurgerichtshof in der nordkurdischen Provinzhauptstadt Riha (türk. Urfa) ist am Dienstag der Prozess gegen die Kriegsgefangene Çiçek Kobanê (bürgerlicher Name: Dozgin Temo) fortgesetzt worden. Die Anklage wirft der Angehörigen der Frauenverteidigungseinheiten YPJ (Yekîneyên Parastina Jin) die Störung der Einheit und Integrität des Staates, Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation und vorsätzlichen Mordversuch in mehreren Fällen vor. Çiçek Kobanê war vergangenen Oktober im nordsyrischen Ain Issa in Gefangenschaft der Dschihadistenmiliz Ahrar al-Sham geraten, die Teil des dschihadistischen Proxykorps der Türkei, der sogenannten „Syrische Nationalarmee“ (SNA) ist, und sich an der Invasion in Rojava beteiligt. Nach ihrer Gefangennahme wurde die in Raqqa geborene Kurdin aus Kobanê über die Grenze auf türkisches Staatsgebiet verschleppt. Seitdem befindet sie sich in einem Hochsicherheitsgefängnis Riha in Untersuchungshaft.
Vor Gericht wies Çiçek Kobanê die zweifelhaften Anschuldigungen gegen sie erneut zurück. Sie wiederholte ihre bereits beim Prozessauftakt gemachte Aussage, wonach sie zum Zeitpunkt ihrer Gefangennahme in Nordsyrien nicht an bewaffneten Handlungen beteiligt war, sondern humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung leistete. Erstmals äußerte sie sich auch zu den Hintergründen ihrer Verletzungen und gab an, dass ihr zwei Mal ins Bein geschossen wurde, nachdem sie bereits verletzt in Gefangenschaft geraten war. Vor der Überstellung an die Haftanstalt in Riha war Kobanê noch bei einer Operation eine Platinschiene am Fuß eingesetzt worden. Der Eingriff ist offensichtlich misslungen, da sie seitdem nicht allein aufstehen und sich selbst versorgen kann. Es wäre nicht das erste Mal, dass medizinische Operationen an kurdischen Gefangenen bewusst verpfuscht werden.
Nach der Gefangennahme von Çiçek Kobanê tauchten in Online-Netzwerken Fotos und Videos auf, in denen ihre Hinrichtung angekündigt wurde. Die Islamisten präsentierten Kobanê als Gefangene und schrien: „Ins Schlachthaus, ins Schlachthaus.“
Çiçek Kobanês Verteidiger Hidayet Enmek gab vor Gericht an, dass kein einziger Beweis vorliege, der die Anschuldigungen gegen seine Mandantin stütze. Lediglich ein Protokoll ihrer Aussage sei Bestandteil der Beweisaufnahme. Zudem bemängelte der Rechtsanwalt erneut, dass nach wie vor unklar sei, wer Kobanê „festgenommen“ habe und wie die Gefangennahme zustande kam. „Auch geht aus der Anklageschrift nicht vor, auf welche Weise sie verletzt wurde“, sagte Enmek und forderte das Gericht auf, entsprechende Unterlagen von der zuständigen Militärpolizei anzufordern. Die Richter stimmten dem Antrag zu und vertagten den Prozess. Die Verhandlung wird am 22. September fortgesetzt.