Der systematische Entzug von Mandaten und der Immunität von Abgeordneten ist eine Waffe des türkischen Regimes, um die parlamentarische Opposition auszuschalten. Das AKP/MHP-Regime benutzt diese Methode der Repression insbesondere gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP). Zuletzt wurden zwanzig neue Anträge zur Aufhebung der Immunität von Abgeordneten eingereicht. Die Hälfte der Anträge richtet sich gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP), die andere gegen die Republikanische Volkspartei (CHP). Den Abgeordneten wird laut Medienberichten unter anderem Präsidentenbeleidigung, Volksverhetzung und Verleumdung vorgeworfen. Der stellvertretende HDP-Vorsitzende und Abgeordnete aus Izmir, Murat Çepni, kritisiert im ANF-Gespräch insbesondere die unsolidarische Haltung der anderen Oppositionsparteien und ruft diese zu Aufrichtigkeit auf.
Die HDP hat die Politik des Regimes erschüttert
Murat Çepni, dem selbst auch die Immunität entzogen werden soll, sagt: „Mit den Wahlen vom 24. Juni (2015) haben wir der Palastherrschaft (gemeint ist das AKP/MHP-Regime) eine sehr substanzielle Antwort gegeben. Der Wahlerfolg der HDP hatte den Regierungsblock landespolitisch erschüttert. Sowohl in Bezug auf die Anzahl der Abgeordneten, die wir ins Parlament entsenden konnten, als auch mit der politischen Energie, die wir vor und nach der Wahl entwickelt haben, haben wir ihnen im ganzen Land den Schlaf geraubt. Daher wurde unmittelbar nach den Wahlen eine Strategie entwickelt, um die HDP und ihre Abgeordneten lahmzulegen.
Es wurde ein umfassender Angriff umgesetzt, der sich in Festnahmen, Inhaftierungen und Operationen manifestierte und darauf abzielte, unsere Kommunalverwaltungen und unsere Abgeordneten zu neutralisieren. Auch wenn diese Anträge auf Aufhebung der Immunität neu auf die Tagesordnung kommen, so sind sie doch eigentlich nicht neu. Unmittelbar nach der Wahl gab es Hunderte solcher Anträge, auch wenn darüber nicht viel in der Presse berichtet wurde. Da in den letzten beiden Monaten auch die CHP von solchen Anträgen betroffen war und auch vor dem Hintergrund des Verbotsverfahrens gegen unsere Partei und dem Kobanê-Verfahren, rückten sie nun ein bisschen stärker auf die Tagesordnung.
Als HDP wollen wir Demokratie, Gleichberechtigung der Völker, Gerechtigkeit und ein freiheitliches Umfeld in dieser Region. Wir stehen für ein neues Leben. Das wollen wir nicht nur für die Wählerschaft der HDP oder für die Kurden. Wenn es in dieser Region Demokratie geben soll, dann muss dies für Kurden, Türken, Aleviten und für alle gesellschaftlichen Bereiche gelten. Es ist nicht möglich, Demokratie für die einen und Faschismus für die anderen zu haben. Diesen Gedanken haben wir von Anfang mit dem Slogan ‚Demokratie für alle und Gerechtigkeit für alle‘ zum Ausdruck gebracht.“
Murat Çepni ist ökologiepolitischer Sprecher der HDP
Die Opposition ist unzulänglich
Çepni fährt fort: „Die Einsetzung von Zwangsverwaltern ist eine der augenfälligsten Praktiken der Repression. Es werden Anklagen auf der Grundlage von Komplotten und Lügen vorbereitet und eine Politik der Kriminalisierung umgesetzt. Zuletzt wurde erneut offensichtlich, an keiner gegen unsere Kommunalverwaltungen erhobenen Anschuldigen war irgendetwas dran. Wir sagen, dass die Zwangsverwaltung nicht nur auf die HDP oder das kurdische Volk abzielt, sondern es sich um eine Form der Governance handelt, die eine Gefahr für die gesamte Gesellschaft in der Türkei darstellt. Leider hat ein Teil der Opposition kalkuliert, dass sie, wenn sie schweigt und die Situation ignoriert, in Ruhe gelassen würde. Heute ist klar geworden, dass dies ein großer Irrtum ist. Wir haben es hier mit einem Regime zu tun, das neben sich keine andere Stimme tolerieren kann. Es handelt sich um ein faschistisches System, das sich für den Machterhalt der Vernichtung aller Kräfte jenseits seiner selbst verschrieben hat. Die Opposition beginnt, ihren Ton zu ändern, aber das ist immer noch vollkommen unzureichend. Die Frage ‚Wo sind die 128 Milliarden‘ ist eine legitime Frage, aber wir haben die Frage bereits zuvor gestellt. Dieses Geld wird als verdeckte Zahlung an die Söldner, die in Syrien gegen das kurdische Volk organisiert werden, als Lohn gezahlt. Wir haben nachgefragt, woher das Geld kommt, mit dem diese Söldner bezahlt werden. Ohne die bedingungslose Unterstützung der CHP für die damalige Syrienpolitik zu hinterfragen, macht es keinen Sinn, nach dem Verbleib der 128 Milliarden zu fragen.“
„Die Angriffe werden noch umfassender werden“
Çepni sieht die aktuellen Versuche, Abgeordneten die Immunität zu entziehen, als Teil einer umfassenden Kampagne, und warnt vor noch weitreichenderen Attacken: „Wenn wir uns Erdoğans Reden anhören und genau betrachten, dann können wir sehen, dass wir es mit einem umfassenden Angriff zu tun haben. In der Türkei gibt es die Haltung, dass man ein Regime erst als faschistisch bezeichnen kann, wenn es Gaskammern errichtet. Dass es Parteien gibt, wird als Hoffnung für demokratische Politik betrachtet. Aber in dieser Region versucht das kurdische Volk seit 50 Jahren zu beweisen, dass sie Kurden sind und dass es Rechte hat. Es gibt 17.000 Morde ‚unbekannter Täter‘, 4.000 Dörfer wurden zerstört, zehntausende Menschen sitzen allein deswegen im Gefängnis, weil sie Kurden sind und Kurdisch denken. Die Messlatte für Unterdrückung liegt in dieser Region ohnehin sehr hoch.
Der AKP/MHP-Block hat viele Verbrechen begangen und versucht nun, neue Mechanismen zu schaffen, die seiner eigenen politischen Existenz entsprechen. Auf der einen Seite werden neoosmanische, islamistische Aussagen getätigt, auf der anderen Seite werden immer rassistischere und nationalistischere Definitionen benutzt. Sie sagen, dass diejenigen, die nicht ‚eingeboren und national‘ sind, kein Recht haben, in diesem Land Politik zu machen. Es geht nicht nur darum, Parteien zu verbieten, es geht um Gewerkschaften, Parteien, Massenorganisationen und Berufsvereinigungen als Ganzes, was auch immer im Namen der Opposition ist, sie werden entweder in einen Hinterhof des Palastes umgewandelt oder sie verschwinden. Das ist das Ausmaß der Angriffe.“
„Wir rufen zur Aufrichtigkeit auf“
Der Abgeordnete schließt mit den Worten: „Wir sind eine Kampforganisation der Völker, der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Frauen und der Jugend. Wir sind die Partei des Kampfes für Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit. Natürlich sehen wir unsere eigene Zukunft in diesem Kampf. Das ist genau das, was wir als ein demokratisches Bündnis bezeichnen. Wir sagen der Opposition außerhalb des Palastes: Man kann nicht mit der AKP konkurrieren, indem man in Nationalismus und Kurdenfeindlichkeit konkurriert. Man kann sich der Syrienpolitik der AKP nicht widersetzen, indem man ‚Ja‘ zur Libyenpolitik sagt, indem man einerseits ‚Ja‘ zu ihrem Imperialismus sagt, aber dann fragt, wo denn die 128 Milliarden geblieben seien. Wir fordern Aufrichtigkeit. Wenn man die AKP loswerden will, muss man sich gegen ihre Praxis stellen. Wir rufen alle Gegner der AKP zur Aufrichtigkeit auf.“